• Brautleid zur Wiederverwendung

    18.03.2024

    Carmen arbeitet seit vierzehn Jahren als Schneiderin für Brautmode, aber so eine Kundin wie Frau Kahlenried hatte sie noch nie. Für Frau Kahlenried das Allerwichtigste: Ihr Brautkleid muss wiederverwendbar sein. Bei jedem Anpassungstermin versichert sie sich mehrfach: "Kann ich das auch wirklich mehrmals tragen? Kann ich das wiederverwenden?" Geld spiele keine Rolle, nur "nachhaltig" solle es sein. Sie wolle es zu "mindestens zehn Gelegenheiten" tragen können. Carmen versichert ihr immer wieder, der Stoff sei robust und gut zu reinigen, man könne es locker hundertmal tragen. Aber Frau Kahlenrieds Erleichterung hält immer nur kurz an. Bei längerem Nachdenken scheint ihr auch die Aussicht auf hundert Tragegelegenheiten zu gering. Sie will es dann immer nochmal und nochmal anprobieren, und beschwert sich, das Kleid "enge sie ein", sie bekomme schlecht Luft darin. Carmen schneidert den Entwurf immer weiter und weiter, aber für Frau Kahlenried kann es gar nicht weit genug sein. Beim vorletzten Anpassungstermin äußert sie den Wunsch, sie wolle "den Stoff überhaupt nicht auf der Haut spüren". Ob das machbar sei.

    Carmen ist die beste Brautmodenschneiderin des ganzen Landes. Sie weiß noch nicht wie, aber sie wird es hinbekommen.

  • Besessen vom Meister

    18.03.2024

    Den einzigen Trost in seinem von Neurosen und Zwängen bestimmten Leben findet er in den Büchern des Meisters. Der beste deutschsprachige Schriftsteller aller Zeiten, genresprengender Tausendsassa, Hansdampf in allen Gassen, neben der Literatur ist er Multi-Instrumentalist und Zeichner. Was für ein Genie.

    Er hört das fünf Romane und drei Erzählbände umfassende Oevre des Meisters in Hörbuchform rauf und runter. Und wieder rauf und wieder runter. Er hat die Bücher, meisterhaft eingesprochen vom Meister selbst, so oft gehört, dass er minutenlange Passagen fehlerfrei mitsprechen kann.

    Der Meister, in seinem Werk so nah, aber als Gestalt unerreichbar, lässt ihn nicht los. Er lehnt sämtliche produzierte Literatur ab, wenn sie nicht vom Meister kommt, seine kanonische Kenntnis der Gegenwartsliteratur beschränkt sich auf die insgesamt acht Bücher des Meisters. Nachts träumt er von dem Meister, tagsüber recherchiert er stundenlang nach alten Youtube-Videos mit Fernsehauftritten oder archivierten Radio-Gesprächen. Alles, was er findet, konsumiert er bis zur völligen Auswendigkeit. Er hält es für gut möglich, dass niemand in der Geschichte der Literaturwissenschaft eine größere Werk-Expertise zu einem einzelnen Künstler hat als er zum Meister.

    Er hat sich vollständig den Sprechduktus und die literarische Figurenrede des Meisters zu eigen gemacht und kopiert bis ins kleinste Detail dessen Sprache, S-Fehler und Nuschler inklusive. Er kauft sich die Klamotten nach, die der Meister trägt. Er fährt 800 Kilometer durch Deutschland und setzt sich an einem nasskalten Novembertag auf eine Parkbank in dem Park, von dem er weiß, dass der Meister gern seine Jogging-Runden hier dreht. Er friert und bibbert und hofft, ihn zu Gesicht zu bekommen, aber er kommt nicht.

    Er geht ein paar Straßen weiter und stellt sich vor sein Wohnhaus. Die Adresse hat er über den Verlag des Meisters herausgefunden, er hat sich als Filmproduzent ausgegeben, der an Rechten einer Kurzgeschichte interessiert sei. Er schaut nach oben zu seiner Wohnung. In der Küche brennt Licht. Ob er gerade den Vier-Schlitz-Toaster bedient, von dem er in einem Radiointerview erzählt hat? Das Licht in der Küche erlischt, und das im Wohnzimmer geht an. Der Meister wird jetzt mit seinem Toast vor dem Fernseher sitzen, und sich Redewendungen aus Reality-TV-Formaten notieren, das macht er gern, hat er vor sieben Jahren mal in einem Nebensatz in einem Podcast erwähnt.

    Er fühlt sich ihm so nah. Er bleibt noch drei Stunden vor der Haustür stehen, bis auch das Licht im Wohnzimmer erlischt und der Meister sich in sein Schlafgemach zurückzieht, das nur vom Innenhof aus einsehbar ist. "Gute Nacht", flüstert er, und fährt dann die 800 Kilometer zurück in seine Heimatstadt.

    Zuhause setzt er sich an den Schreibtisch. Seit vier Jahren arbeitet er an einem Buch, einem Roman, der vor lauter Easter-Eggs fast platzt, die nur eine Person auf der ganzen Welt verstehen wird: der Meister. Er ist fast fertig. Sein Roman wird sich nahtlos in das Werk des Meisters einfügen. Niemand wird verlässlich sagen können, ob er es nicht doch selbst geschrieben und unter Pseudonym veröffentlicht hat. Keine Sprachsoftware der Welt wird leistungsfähig genug sein, um sein Buch von einem des Meisters zu unterscheiden.

    Sie werden verschmelzen und endlich eins werden. Ihre Namen werden synonym genannt werden. Dann wird endlich alles gut.

  • Aufmunternde Grüße eines früh Gescheiterten

    15.02.2024

    Romanprojekt

    Arbeitstitel: Aufmunternde Grüße eines früh Gescheiterten

    Exposé von Bernhard Heckler

    Formal ist der vorliegende Text ein nachträglich vom Erzähler selbst annotiertes Tagebuch. Inhaltlich handelt es sich um eine komplexe Tragikomödie, in der Satire als Notwehr zum Einsatz kommt und den unverstellten Schmerz des Erzählers nur mühsam unter der Oberfläche halten kann. Hin und wieder bricht er sich Bahn. Und der Erzähler, der Wert darauf legt, eine literarische Figur zu sein, hofft, dass man ihm glaubt, wenn er sagt, dass der vorliegende Text die einzige Möglichkeit für ihn ist, so wahrhaftig wie möglich Zeugnis von seinem wahren, schutzlosen, zum Verrecken fragilen Wesen abzulegen.

    Die Tagebuchform fragmentiert das Manuskript in eigenständig funktionierende Texte von zwei Sätzen bis fünfzehn Seiten Länge, die sich in der Gesamtschau zu einem zusammenhängenden Epos über das Scheitern fügen. Dramaturgisch zusammengehalten wird das Ganze durch die chronologische Erzählform: Das fortschreitende Ringen des Erzählers mit der Arbeit an seinem zweiten Roman „Bierzeltgladiatoren“.

    Manche der einzelnen Texte klingen wie Zeitungsinterviews, manche wie ins Groteske kippende Behördenbriefe, andere bewegen sich zwischen Aphorismus, klassischer Erzählung, Verzweiflung, Trübsinn und großem Spaß.

    Mit zehn Seiten Textprobe ist dieses literarische Projekt in seiner Vielschichtigkeit nur andeutungsweise darstellbar – sie beschränkt sich auf Auszüge des Primärtexts. Die in der Textprobe ausgesparten Annotationen vervollständigen das Manuskript zu einem interaktiven Text zum Vor- und Zurückblättern, zu einer formalen Pionierleistung, vielleicht auch nur einer besonders amüsanten Klolektüre, in jedem Fall: zu einer spannenden Geschichte! Die aus drei zentralen Bauteilen besteht.

    DIE DREI ZENTRALEN BAUTEILE

    Erstens: Rollenprosa nah an der Tatsächlichkeit – eine autofiktionale (mit Betonung auf FIKTIONALE) Tragikomödie. Plot: Ein junger Schriftsteller versucht, sich seinen Weg durch das Dickicht des Literaturbetriebs zu bahnen, und arbeitet mit dem Mut der Verzweiflung an seinem zweiten Roman „Bierzeltgladiatoren“. Seine Bemühungen sind ergebnisoffen, mit der Tendenz zur Chronik eines Scheiterns, seine Verzweiflung ist echt, nur der spielerische Umgang mit ihr macht sie ihm erträglich.

    Zweitens: Kurzgeschichten rund um das Scheitern. Eine Frau rechnet mit ihrem „Erzeuger“ ab. Der Leidtragende ihres Rachefeldzugs: ihr Sohn. Ein Coffee Twin muss für seinen lebensunfähigen Zwilling in die Bresche springen und den gemeinsamen Coffee Shop am Laufen halten. Ein Mann zerbricht an einer leichten, aber hartnäckigen Verletzung.

    Drittens: Nachträgliche und fortlaufende Annotationen des Geschriebenen mit etwa drei Jahren Abstand. Das laute Nachdenken des Autors über sein Geschreibsel wirkt in den Text hinein, die intertextuellen Bezüge wachsen an zu einem quasi-neuronalen Netzwerk, das Manuskript entwickelt ein Eigenleben, ein eigenes Denken und Fühlen: Luhmanns Zettelkasten 2.0, Zielgruppe: die breite Öffentlichkeit.

    So weit, so kompliziert, reizvoll, wenig markttauglich. Deshalb sehr gut geeignet für eine Förderung des Deutschen Literaturfonds, der es sich leisten kann, engagierte Künstlertypen ohne BWL-Skills wie Bernhard Heckler finanziell zu stützen, weil sie sonst an der Wirklichkeit zerbröseln und das Schreiben irgendwann aus Not einstellen würden. Und wer weiß, vielleicht würde die Nachwelt diesen hypothetischen Umstand irgendwann als bedauerlich einstufen. Irgendwie konnte der doch was, schade, dass er aufgehört hat!

  • Der Regisseur schreibt tief in der Nacht der Liebe seines Lebens eine Nachricht, weil sie nicht auf seine Anrufe reagiert

    02.02.2024

    SANDRA TUMAN, DU DOOFE MUSS!!! GEH ANS VER(GESCHLECHTSVERKERTEE) WORT FARF MAN J A HEUTE NUR NOXH SAGEN(VOR ALLES, WEIL MIR DAS GANSE LAND SO AUF SAK – GEH WEÄDA UNF MIR NICH AUFM SAK !!! 😂😂😂MIT K. OHNE CK, WIEADA VOELLIG FALSCH GEPPOSTET(MIT DIPPEL P)….I DONNT GIVE A FLYING FUK. WEIL ICH FICH TIM. VON HERZEN KIEBE! UND: ICH DANKE SAGE! EUCH VOM DEUTSCHEN VOLL, DASS EUCH SOOOO LIIIIBE !!!❤️EUER TULT(SCHREIBFEHLER NOT CORRECETED, WEIL ETRA!!!!🥊🥊🥊🥊(ETRA OHNE X UND TAUSEND SCHREIBFEHLER FUER DIR MICH DIE DT. P INTELIGENZUA MICH IMMER IN DIE TONNE TRIT! BUT U KNOW WHAT. V ?!!! I COULDNT CARE LESS!!!! 😂😂😂😂DANKE. DEUTSCHLAND! ICH LIIIIIEBE EUCH!!!!❤️❤️❤️🎈🎈🎈🎈🎈

    TTHORTEN JOCHC MARKETING HEF COCONDRANTIM FILM/ VH WAESSR

    ISER-

  • Der Regisseur gewinnt einen Filmpreis und schickt eine Sprachnachricht an die Liebe seines Lebens

    02.02.2024

    Sandra.

    Mein lieber Schatz, meine Ex-Frau von vor 37 Jahren. Stopp. Waren ja gar nicht 37 Jahre, aber ich war im Kopfrechnen immer scheiße. Warte mal, Wunder Wunder war 1991, jetzt haben wir 2023, also von vor 32 Jahren. Ich werd nie vergessen, wie ich zum Casting kam, und diese ganzen Schauspieler rumhampeln, rumstanden und blablablablabla. Und dann saß da diese Blondine am Boden. Mit dem Rücken zur Wand, ganz bescheiden. Und sie war die einzige gutaussehende Frau in diesem Raum, und da waren Hunderte. Und ich setz mir zu der. Und ich war immer schüchtern! Das glaubt mir immer keiner. Immer schüchtern. Und ich so: Und du so? Und du so: Ja, ich caste hier für den Film, so. Ich finde, ganz ehrlich, du bist die einzige normale Frau hier, so. Danke, dass ich mich neben dich setzen darf, so. Und dann, und jetzt kommts! – haben wir beide, wir Beide, die eben nicht so blablabla, wir sind beide – ich muss mal aufstehen – wir sind beide, wir sind beide – jetzt geht die Musik aus, what the fuck. Ist mir auch jetzt scheißegal. [Musik geht wieder an]

    Ähm, wir sind gewählt worden, von Wolfgang [unverständlich] und Peter [Zeng?] und dann auch abgegläubigt von Kurt Schachinger, meinem Freund. Wahnsinn, ey. Das war vor 32 Jahren. Und, ähm, ich feier grad nur. Ich hab 3 Nächte nicht geschlafen. Jede Nacht nehm ich mir vor, ich werde schlafen, ich schlaf wieder nicht. Aber… Alle meine Freunde sagen, mein Junge, pass auf dich auf, du bist auch nicht unsterblich und so, aber weißt du was, ey, ich liebe mein Leben. Die sollen sich alle mal hmhmhm gehen, ähm, ich liebe mein Leben. Und ich bin so stolz, ich bin so dankbar, und ich freu mich so, dass das deutsche Publikum den Film genauso liebt wie du. Und ich. Ich bin so dankbar. Danke Deutschland, dass ihr diesen Film so annehmt, ich liebe euch dafür.

  • Der Erzeuger

    29.01.2024

    Kein Weihnachtsgeschenk, kein Anruf zum Geburtstag, nichts, nie. Scheiß Erzeuger. Ich nenn ihn nicht Vater, weil er für mich kein Vater ist. Der dumme Erzeuger. Hat sich nie für mich interessiert. Ist abgehauen, hat sich verpisst, die feige Sau. Meine Kinder wird der nie zu Gesicht bekommen, das schwör ich ihm. Letztens hat er für den Luca so einen Scheiß Spielzeugbagger angeschleppt. Kannst du gleich wieder mitnehmen, den Scheiß Bagger, und dich schön verpissen!, hab ich zu ihm gesagt. Der elende Scheiß Drecks Erzeuger. Hat den Drecks Bagger vor der Tür stehen lassen, und sich verpisst, so wie immer.

    Ich hab den Luca geholt und gesagt: Siehst du den Bagger? So denkt mein Erzeuger, dass er deine Liebe kaufen kann. Den schmeißen wir jetzt zusammen in den Müll. Wenn du den Erzeuger auf der Straße siehst, dann rede nicht mit ihm und geh weiter. Das ist ein verdammte Drecksau, hab ich zu ihm gesagt. Der Luca hat geflennt und gerotzt, als ich den Bagger weggeschmissen hab. Da hab ich gesagt: Du schaust so hässlich aus, wenn du flennst. Genau wie der Erzeuger. Hör auf, verdammt, sonst muss ich wieder an die ganze Scheiße denken, die er mir angetan hat. Und du willst doch nicht, dass ich an ihn denke, wenn ich dich sehe. Oder? Dass ich dich genau so hasse wie den Erzeuger? Da hat er aufgehört zu flennen und ist in sein Zimmer gegangen. Abends hat er wenig gegessen.

    Unfassbar, der beschissene Erzeuger. Versaut uns unser Familienleben mit seinem Drecksspielzeug. Der Luca war noch tagelang durch den Wind, nachdem der Erzeuger uns mit dem Scheiß Bagger gestalked hat. Wenn er sich nochmal hertraut, mach ich ihn fertig, den glatzköpfigen, dreckigen Feigling. Was er mir alles angetan hat, das kann keiner wiedergutmachen. Ich schwöre, wenn der hier noch einmal ein beschissenes Spielzeug anschleppt und mir den Luca wegnehmen will, dann zerstör ich sein Leben, wie er meins zerstört hat. Er soll verdammt nochmal meinen Sohn in Ruhe lassen! Ich lass das nicht zu, dass er den auch noch so ruiniert wie mich!

    Als er letztens gefragt hat, ob der Opa nochmal wiederkommt, hab ich ihm richtig eine gescheuert. Das ist nicht dein Opa!!, hab ich ihm gesagt! Das ist eine ganz üble Drecksau, und ich lasse nicht zu, dass er dein Leben zerstört! Das tut mir so weh, den Luca weinen zu sehen, wegen dem, was der Erzeuger schon wieder angerichtet hat. Wenn der Erzeuger endlich verreckt ist, ich schwöre, dann sorg ich dafür, dass niemand auf seine Beerdigung kommt. Stattdessen gehe ich mit dem Luca zu McDonalds und er darf sich 20 Chicken McNuggets mit Süß Sauer Soße bestellen, und dann gehen wir ins Kino und er kriegt eine extragroße Popcorn.

    Heute vor dem Schlafengehen wollte er wieder nicht Zähneputzen. Mach es freiwillig, oder Ohrenziehen, hab ich ihm gesagt. Und schon ging es. Vor dem Einschlafen hab ich ihm gesagt, wenn der Erzeuger mal tot ist, muss er nie wieder Zähneputzen. Da hat er gelächelt. Alles Glück der Welt hat er verdient. Ich hoff nur, dass du nie Kinder kriegst, hab ich ihm gesagt und sanft über den Kopf gestreichelt. Männer können nicht mit Kindern umgehen, weißt du. Und ich will nicht, dass dich mal jemand so hasst wie ich den Erzeuger.

    Ich hab eine eigene, kleine Familie gegründet. Das hat er mir nicht genommen. Mein Sohn. Er schaut ihm ein bisschen ähnlich. Aber ich sehe da noch so viel mehr. So viel Liebe in seinen Augen. Kinder sind so unschuldig, wenn man sie nur lässt. Ich pass auf, dass es dir mal besser geht als mir, mein Kleiner. Das versprech ich dir.

  • Der Schmerzensmann

    15.01.2024

    Was ist denn das jetzt schon wieder? Ein Stechen auf der Innenseite des rechten Knöchels. Es erwischt ihn kalt. Der Schmerz ist nicht furchtbar, eher Kategorie nervig. Ein helles Stechen in bestimmten Bewegungsrichtungen, die er nie exakt reproduzieren kann. Mal sticht es zwanzig Schritte lang gar nicht, dann plötzlich fährt der Schmerz ein, obwohl er nur rumsteht oder sogar sitzt.

    Für Außenstehende schwer nachzuvollziehen: Weil sein Knöchel ihm wehtut, fühlt er sich schuldig. Die Schuld wiegt schwerer als der Schmerz. Viel schwerer. Was hat er falsch gemacht? Hat er eine Belastung des Gelenks zugelassen, die er um jeden Preis hätte verhindern müssen? Er überlegt und überlegt und kommt auf nichts. Warum immer er? Wieso muss Gott ihn mit immer neuen Schmerzen strafen? Mal ist es das Knie, mal die rechte Schulter, sogar die Kieferhöhlen brennen manchmal. Aber am schlimmsten ist immer der Knöchel. Seine Schwachstelle, Sollbruchstelle, sein Makel, sein Hindernis an einem gelungenen und glücklichen Leben. Was er alles ertragen muss. Er ist ein Schmerzensmann.

    Die spontan und stets unberechenbar auftretenden Schmerzen sind umso schlimmer, wenn sie keine klare Ursache haben. Umgeknickt - okay. Schlag draufbekommen - alles klar. Aber einfach so? Dann müssen es Folgeschäden sein. Posttraumatische Belastungsstörung, Arthrose, Verschleiß, irreparabler Schaden. Ach, ach, ach. Die leichten Knöchelschmerzen haben sich in sein Gesicht eingeschrieben. Er sieht älter aus, als er ist. Schmerzens- und Furchtfurchen um seine Augen. Unattraktiv.

    Vielleicht kann er sich das komplette Sprunggelenk rausschrauben und ersetzen lassen. Alles, was ihn jetzt noch retten kann, ist irgendwas maximalinvasives. Ein Komplettreset, Amputation, neues Bein. Einfach abschrauben, den Drecksknöchel. Ich bin selbst schuld, denkt er, ich hab mich ruiniert, nicht auf mich geachtet. Ich hätte vorsichtiger sein müssen. Ich habe mich an meinem Körper versündigt, und jetzt bezahle ich den Preis!

    Die unmittelbar bevorstehende, terminale Abhackung des gesamten Beins ist seine gerechte Strafe. Er wird sie voller Demut annehmen. Leiden, bis er genug gelitten hat. Und dann hoffentlich in den Himmel kommt, wo er schwerelos ist und endlich wieder ohne Schmerzen laufen, rennen, toben und springen kann. Wie ein kleines Kind.

  • Aua, aua, das gibt einen blauen Fleck

    14.01.2024

    Der allerhöchstens mediokre Autor Rainald Goetz (zu viel Wille zum Stil, zu viel ausgestelle Intellektuellen-Attitüde, nerviger Hang zum Jogging-Anzug) wurde 1983 durch einen Auftritt beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt berühmt (spartenberühmt, normale Leute kennen ihn selbstverständlich nicht). Vor laufenden Fernsehkameras ritzte er sich während seiner Lesung die Stirn mit einer Rasierklinge auf, ließ das Blut über seine Hände und sein Manuskript laufen und beendete die Lesung blutüberströmt.

    Für den unwahrscheinlichen Fall, dass auch ich eines Tages nach Klagenfurt eingeladen werde, überlege ich jetzt schon Möglichkeiten der publikumswirksamen Selbstverletzung, um von meinem lauwarmen Geschreibsel abzulenken. Weil ich ein eher empfindlicher Typ bin, scheidet alles mit Blut aus.

    Möglichkeit A: Sehr heftiges Schnäuzen. Die Nebenhöhlen richtig strapazieren. Unangenehm! Möglichkeit B: Fest in den Unterarm zwicken. Aua, aua, das gibt einen blauen Fleck! Ein echter Publikums-Schocker. Möglichkeit C: Die Fingernägel ein bisschen zu kurz schneiden, sodass die empfindliche Nagelhaut leicht gerötet und vulnerabel zurückbleibt. Extrem! Möglichkeit D: Einen teuren Schal oder ein teures Halstuch vor laufenden Kameras mit der Rasierklinge bearbeiten. Das kann man doch dann nie wieder anziehen! Heckler dreht durch!

    Sowas in die Richtung. Klagenfurt, wo bleibt die Einladung?

  • Kaffee saufen

    13.01.2024

    Erstmal noch einen Kaffee saufen. So beginnt er seine Schreibtage. Schön noch einen Kaffee reinsaufen, der bringt die müde Hirnmasse auf Touren, dann kommen die Sätze von selbst. Ihm gefällt das Ordinäre an der Formulierung. Nicht Kaffee trinken, sondern einen Kaffee saufen. Schön wegsaufen, den Kaffee. Er sagt es laut: "Erstmal noch einen Kaffee saufen."

    Seit vier Tagen hat er mit überhaupt niemandem mehr geredet. Seit ein paar Jahren ist er ganz kurz vorm Durchdrehen. Dennoch gelingt es ihm, seinen mentalen Komplett-Meltdown immer weiter hinauszuzögern, durch relativ simple Maßnahmen: Sport, und zwar richtig stumpfes Gewichte wegficken (wieder so eine Formulierung, die er super findet, schön Gewichte wegficken), dann Schreiben, egal was, egal wie schrottig, hauptsache die Tastatur klackert, und schließlich saufen, und zwar keinen Kaffee, sondern bitteren, herben, wunderbaren Alkohol. Nach dem zweiten Bier verbessert sich seine Laune verlässlich um etwa 2000 Prozent.

    Aber erst nach 17, besser nach 18 Uhr erlaubt er sich diese Mikro-Erlösung. Davor säuft er Kaffee und schreibt, um die Klapse weiter rauszuschieben. Seit vier, sieben, elf Jahren, wie lang genau, hat er vergessen, schraubt er an einem zum Scheitern verurteilten, in Wahrheit schon längst gescheiterten "Buchprojekt" herum, das nie auch nur den Hauch einer Chance auf Fertigstellung oder äußere Anerkennung hatte. Eine zusammenhanglose Wüste aus Anekdoten, die alle um das gestörte Verhältnis zu seiner verdammten Mutter kreisen.

    Mutter, Mutter, Mutter. Sie ist schuld an seinem Niedergang, an seinem zähen Unglück, sie hat ihn kaputt gemacht. Damit die Seelenverstümmelung nicht völlig umsonst war, versucht er jetzt, Literatur daraus zu machen, aber er kann nicht, ihm fehlen die Mittel. Seine Sprache ist roh, ordinär und brutal, kaum lesbar, im Prinzip unerträglich. Niemand wird mitfühlen mit diesem in entscheidenden Lebensmomenten passiven, zutiefst schwachen, dabei leider unsympathischen "Erzähler" (die Texte sind zu 100 Prozent autobiografisch, ohne jede Distanz zum Stoff oder zur Figur), der die Leser mit Berichten seiner inneren Höllenqualen zuschüttet und ihnen den Tag versaut.

    Er weiß, was es bräuchte. Zuallererst mal eine Frauenfigur. Männer lesen quasi nichts, diese dummen, degenerierten Schweine. Nur Frauen kaufen Bücher, und sie wollen verständlicherweise keine Jammereien eines waschechten Incels lesen. Dann bräuchte es so etwas wie Dramaturgie, zumindest eine schemenhafte Ausstaffierung mit so etwas wie Hoffnung oder Lebensbejahung, vielleicht Liebe, ein bisschen eleganten Kitsch, ein Happy End oder zumindest Happy Moments, aber er kann nicht. Er kann überhaupt nicht. Einmal hat er mit Steuerung/H jedes "er" im Text mit einem "sie" ersetzt, plötzlich hatte er eine ErzählerIN, aber so wurde das "Buchprojekt" nochmal schlimmer.

    Ein horrorartiger Verfremdungseffekt durchzog jetzt die trostlosen Sätze, er stürzte beim Lesen in ein Uncanny Valley und bekam eine Panikattacke. Um sich selbst am vollständigen Durchdrehen zu hindern, griff er zur Ultima Ratio: abmelken. Es half. Jeder Tag, den er nicht mit Gurten ans Bett gefesselt verbringen musste, in einem Raum, wo die Türklinken schräg montiert waren, damit die Insassen sich nicht an ihnen erhängen konnten, war ein gewonnener Tag.

    Die Wege in seinem sehr kleinen Apartment sind kurz. Nach dem Aufwachen kugelt er aus dem Bett, um gar nicht erst in die Liegenbleiben-Falle zu tappen, und brüht sich direkt gegenüber an der Kochstelle einen schönen Kaffee. Erstmal einen Kaffee saufen, und dann mal schauen, was der Tag so bringt.

  • Faden der Hoffnung: Eine Weihnachtsgeschichte

    23.12.2023

    Er wacht nervös und fahrig auf. Er ist kurz davor, sich endgültig aufzulösen. Seine Haut ist durchscheinend, der linke Arm kaum noch zu sehen. Er hat nicht mehr lang Zeit. Um irgendetwas zu hinterlassen, und sei es nur die unbedeutendste aller Spuren im digitalen Raum-Zeit-Gefüge, erstellt er einen Account auf der neuen Social-Media-Plattform Threads.

    Das Buch, das er immer schreiben wollte, hat er nie geschrieben. Die Beziehung, die er immer führen wollte, hat er aus Angst im Keim erstickt. Die Auslandserfahrung, die er immer machen wollte, hat er überwiegend in einem überteuerten Ein-Zimmer-Apartment bestritten, weil er sich in der Öffentlichkeit als sprachloser Analphabet am anderen Ende der Welt verloren fühlte.

    Hier geht es nun also zu Ende. Seine Kleidung wird im Apartment verbleiben. Niemand wird je erfahren, wo er abgeblieben ist. Er schaut auf seine Hände. Durch das immer stoffloser werdende Fleisch kann er seine Knochen sehen, als hätte er einen Röntgenblick. Wenn es so weitergeht wie bisher, ist er an Heiligabend verschwunden.

    Mit der Konzentration und Verzweiflung eines Menschen, dessen unendlich bedürftige Seele sich bis zum Schluss nach der Anerkennung anderer verzehrt, tippt er seinen ersten Thread in die Tasten. Er wartet, betet, hofft, das irgendjemand Notiz von seinem Hilfeschrei nimmt, den er als zweitklassigen Witz verpackt ins Nirgendwo versandt hat. Er steht am Strand auf seiner einsamen Insel und schaut seiner Flaschenpost hinterher. Hätte er nur nicht vergessen, den Deckel draufzuschrauben.

    Seine Threads gehen unter, einer nach dem anderen. Als er in den Spiegel schaut, sieht er, dass seine Augen ihre Farbe verloren haben.

    Nicht mehr lang.

    Er threadet und threadet. Unter der Dusche stellt er mit Entsetzen fest, dass der Wasserstrahl beinahe widerstandslos durch seinen durchlässig gewordenen Körper fließt. Er stellt sich auf die Waage. Er wiegt nur noch 17 Kilo.

    Manchmal bekommt er Follower, die ihr Versehen aber bald bemerken und ihm wieder entfolgen. Seine unoriginell aneinandergereihten Buchstaben sind Treibgut im Wogen der digitalen Gezeiten. Genau das threadet er, um drei Uhr nachts. Meine unoriginell aneinandergereihten Buchstaben sind Treibgut im Wogen der digitalen Gezeiten.

    Im Feed direkt darüber sieht er den Text: Honey, ich weiß, dass ich gut aussehe. Du weißt, dass ich gut aussehe. Deine Mudder weiß, dass ich gut aussehe. Hör auf, dich selbst zu belügen, is ja peinlich. 985 Likes. Direkt darunter steht einfach das Wort: Hallo. 324 Likes.

    Er braucht nur 21 Likes. Ein Like für jedes Gramm seiner Seele.

    Am nächsten Morgen durchdringt sogar das Sonnenlicht die schemenhaften Konturen seines Geisterkörpers. Er wirft keinen Schatten mehr. Sein Gehirn kann seine Gedanken nicht mehr fassen, sie fließen aus ihm heraus wie aus einer gesprungenen Vase. Es kostet ihn unendlich viel Kraft, mit seinen beinahe schwerelosen Fingern die Tastatur zu bedienen.

    Geschafft. Sein letzter Thread diffundiert hinaus in das Universum.

    Ist da jemand?

    Warten. Eine Stunde. Zwei Stunden. Drei Stunden. Dann geschieht das Wunder: Sein Smartphone vibriert. Der User MN, der ebenfalls 0 Follower hat, kommentiert unter seinen letzten Thread: Klaro. Frohe Weihnachten.

    Ein Windzug erfasst ihn. Durch das gekippte Fenster wird er nach draußen gesogen werden wie ein Staubkorn, immer höher Richtung Stratosphäre, in eine andere Welt. Er hebt ab.

    Sein allerletzter Gedanke, bevor der Wind seine Partikel auf die Reise in eine ungewisse Zukunft schickt: Gott sei Dank. Ich bin einmal da gewesen.

  • Interview 2033

    19.12.2023

    DIE WOCHE: Wie läuft die Arbeit an Ihrem zweiten Roman Bierzeltgladiatoren?

    Bernhard Heckler: Mal besser, mal schlechter. Gerade etwas schleppend. Ich sitze jetzt seit zwölf Jahren dran und arbeite gerade an der 53. Fassung.

    WOCHE: Zwölf Jahre ist eine lange Zeit.

    Heckler: Die Perspektive hat noch nicht gepasst in den ersten 52 Fassungen, der Ton war noch nicht rund. Aber jetzt bin ich drauf gekommen: Ich muss diese Geschichte, in der ein paar Außenseiter versuchen, eine Wrestling-Show auf das Münchner Oktoberfest zu bringen, aus einem nicht-menschlichen Blickwinkel erzählen. Deswegen erlebt man die Abenteuer jetzt aus der Sicht einer Bierbank im fiktiven Festzelt Giesinger Madonna. Die Bank erträgt seit vielen Jahren mit stoischer Gemütsruhe, dass Besoffene auf ihr herumtrampeln, dass auf ihrem Rücken sexuelle Handlungen durchgeführt werden, dass sie mit Bier, Bratensoße, Speichel und Magensäure besudelt wird. Ihre Scharniere tun schon weh von den vielen Jahren unter der Last der fetten Biersäufer, die zum Takt von Schöner, Jünger, Geiler mit ihren fleischigen Waden erbarmungslos auf und nieder stampfen. Ich finde das einen guten Gedanken: Die Bank mit all ihren Einkerbungen, Flecken und Kratzern schaut sehnsüchtig vom immer selben Platz in Richtung Bühne, wo ähnlich beschädigte Geschöpfe plötzlich Erfolge feiern. Die Melancholie in der Erzählhaltung spüren Sie doch sofort. Und auch formal hat sie ihren Reiz: Sie müssen sich die Bank vorstellen wie eine feststehende Kamera, immer nur dieser Ausschnitt, aber mit Gefühl.

    WOCHE: Das klingt gewagt. Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber doch einen menschlichen Protagonisten wählen wollen? Der Markt für experimentelle Literatur ist ja eher klein.

    Heckler: Ich kann mich besser in Dinge hineinversetzen als in Menschen. Das war immer schon so. Während es mich eher kalt lässt, wenn jemand weint, kommen mir sofort die Tränen, wenn ein tapferer Baum im Herbstwind seine Blätter verliert. Er wird den Kampf gegen die Krankheit verlieren. Bald wird nur noch sein Gerippe übrig sein, in der Kälte.

    WOCHE: Ah ja. Haben Sie eigentlich schon einen Verlag für Ihr Manuskript gefunden?

    Heckler: Ich bin im Gespräch mit dem Winzling-Verlag aus Oberpoppenburg in Niedersachsen. Die machen immer schöne Bücher. Da ist nur gerade der Verleger verhaftet worden wegen Trickbetrugs, der hat mit Zaubertricks den Leuten das Geld aus der Tasche gezogen, und man muss sehen, wer das jetzt interimsmäßig übernimmt. Ansonsten liegt das Buch auch zur Ansicht bei Klein&Kleiner, meinem bisherigen Verlag, aber wie soll ich sagen, die waren auch schon mal mutiger, was ihre Publikationsentscheidungen betrifft. Die Geschichte einer Bierbank, geschrieben von einem 42-jährigen Mann, das muss man sich halt trauen.

    WOCHE: Vor zehn Jahren haben Sie angekündigt, mit 42 sei Schluss. Wenn Sie bis dahin Ihren Durchbruch als Schriftsteller nicht geschafft haben, das haben Sie damals in einem Interview mit der Studenten-Zeitung der Universität Regensburg gesagt, dann geben Sie auf. Wie denken Sie heute darüber?

    Heckler: Wissen Sie, ich bin überzeugt davon, dass es keine verkannten Genies gibt. Qualität setzt sich früher oder später durch. Ich weiß einfach, dass irgendwann mein Moment kommt. Deswegen bleibe ich dran. Mir bleibt gar nichts anderes übrig. Der Liebe Gott hat mich mit einem so immensen Talent ausgestattet, dass ich es als Sünde empfinden würde, wenn ich daraus nichts machen würde. Ich bin auf der Welt, um den Menschen eine unvergessliche Geschichte zu schenken, eine Geschichte für die Ewigkeit. Und wenn es 250 Fassungen dauert: Irgendwann ist es soweit.

    WOCHE: Sie werden nächste Woche 43.

    Heckler: Mit 32 denkt man, 42 sei alt. Und wenn man dann 42 wird, merkt man, dass sich gar nichts geändert hat. Allein optisch: Sie können doch gar keinen Unterschied erkennen zwischen diesem Foto, da bin ich 30, und mir jetzt. Oder? Eben!

    WOCHE: Ähm...

    Heckler: Wissen Sie, man braucht drei Dinge, um seinen Traum zu verwirklichen: Talent, Fleiß und eine Message. Und ich erfülle alle drei Voraussetzungen. Danke für das Gespräch.

    WOCHE: Normalerweise bedankt sich der Interviewer für das Gespräch.

    Heckler: Wissen Sie, was das Allerschlimmste ist? Undankbarkeit. Ich bin dankbar für alles, was mir widerfahren ist, bis heute. Und ich verspreche Ihnen: Das war es noch nicht!

    WOCHE: Ich muss jetzt los, ich kriege für dieses Interview auch nur 400 Euro, und ich muss das alles noch abtippen.

    Heckler: Viel Erfolg weiterhin mit Ihrem Praktikum! Und wenn Sie bei irgendwas Hilfe brauchen: einfach anrufen! Ich war ja selber mal Journalist.

    WOCHE: Ja, danke. Ich muss jetzt wirklich.

    Heckler: Sie haben einen tollen Spirit! Wollen wir vielleicht mal zusammen einen Film schauen? Ich habe in meiner DVD-Sammlung ein paar Sachen, die Ihnen gefallen könnten! Oder mal einen Spaziergang? Ich kenn mich hier in der Gegend gut aus! Warten Sie! Sie haben Ihre Jacke vergessen! Hallo? Okay, dann behalte ich sie, bis wir uns wiedersehen! Danke nochmal für das Gespräch! Kommen Sie gut nach Hause, und immer weiter so!

  • Wie viele Zeichen noch?

    18.12.2023

    Wie viele Millionen Zeichen habe ich schon in die Tastatur gehackt? Wann kommen endlich die, die den Unterschied machen? Wann treffen meine nervösen Schwitzfingerchen endlich die richtigen Buchstaben in der richtigen Reihenfolge für den ersten Bestseller? Hoffentlich nicht erst dann, wenn sie vor Gicht und Rheuma verformt kurz davor sind, den Geist aufzugeben. Ich will nicht erst im Wartezimmer der Geriatrie von meiner ersten Platzierung auf der Spiegel-Liste erfahren.

    In Sachen Seelenrettung gibt es zur Spiegel-Nummer-Eins eigentlich nur eine lauwarme Trost-Alternative: den Status als Writer's Writer. Man sagt ja, Teddy Teclebrhan sei ein Comedian's Comedian, ein Szene-Darling, speziell bei den Kolleginnen und Kollegen beliebt. Ich strebe mittelfristig MINDESTENS an, ein Writer's Writer zu werden, anerkannt und beneidet vor allem von denen, die es beurteilen können!

  • Das tapfere Hündchen

    17.12.2023

    Das Hündchen ist ein zitterndes, kaum lebensfähiges Laborprodukt, kleiner als eine Katze, mit stark hervortretenden Glubschaugen, bei Temperaturen im einstelligen Bereich angewiesen auf einen entwürdigenden Frottee-Bademantel, der es vor dem Erfrieren bewahrt.

    Es ist so gekreuzt und überzüchtet, dass es schlecht atmen kann. Jeder Luftzug bereitet ihm sichtlich Schmerzen und ist begleitet von einem asthmatischen Röcheln.

    Trotzdem erwartet es ungeduldig hechelnd die Rückkehr seines Frauchens, das für seine Misere verantwortlich ist. Nur weil sich immer wieder Leute wie sie finden, die diese bemitleidenswerten Geschöpfe für ein attraktives Konsumgut und ein lustiges Alltagsgadget halten, werden sie überhaupt noch hergestellt, gezüchtet, mit der Pipette im Labor angerührt und dann der Welt zur Begaffung ausgeliefert.

    Als Frauchen wieder da ist, hüpft das halbtote Wesen in euphorischer Raserei an ihrem Bein hoch. Der erhöhte Augendruck des Tierchens lässt dicke Venen rund um die fast aus dem Schädel platzenden Glubschaugen hervortreten. Völlig erschöpft von der Begrüßungszeremonie klettert das Hündchen schließlich mit letzter Kraft auf den Schoß des Frauchens. Endlich schlägt sein kleines, aufgeregtes, tapferes Herz ein bisschen langsamer. Endlich ein paar Sekunden Ruhe.

  • Absage 4

    15.12.2023

    IHR ANTRAG VOM MAI 2023

    Sehr geehrter Herr Heckler,

    nach der Kuratoriumssitzung am 13. und 14. November darf ich Ihnen - nicht ohne eine gewisse persönliche Genugtuung - mitteilen, wovor Sie sich seit acht Monaten fürchten. Ihr Antrag, den das Kuratorium leidenschaftslos überflogen hat, und auf dem Ihre nicht eben weitsichtigen Hoffnungen auf finanzielle Rettung liegen, hat erwartungsgemäß nicht die nötige Mehrheit der Gremiumsmitglieder des Deutschen Fonds für talentferne, aber fleißige Autoren gefunden. Eine gewisse Faulheit müssen Sie sich neben Ihren handwerklichen Schwächen auch in diesem Jahr vorwerfen lassen.

    Das Kuratorium hatte noch andere Gründe für seine Entscheidung, die wir Ihnen aber leider nicht mitteilen möchten. Dafür bitten wir Sie wie gehabt um Verständnis. Wir lesen im nächsten Jahr voneinander. Oder - und dies schlage ich nur zu Ihrem Besten vor: Vielleicht suchen Sie sich doch ein anderes Hobby als Schreiben. Bevor Sie sich in ein paar Monaten schon wieder die Mühe machen, sich zu bewerben, bedenken Sie: Arbeitslosengeld beantragen ist einfacher!

    Mit sehr freundlichen Grüßen, Anneliese Büttikofer-Schwuppelwupp

  • Heckleresk

    14.12.2023

    Ungeduldiges Warten: Wann wird endlich ein Adjektiv nach mir benannt?

    Kafkaesk: In der Art der Schilderungen Kafkas; auf unergründliche Weise bedrohlich.

    Heckleresk: In der Art der Schilderungen Hecklers; auf erschreckende Weise nichtssagend.

    Schmeichelhaft hin oder her, Hauptsache Adjektiv! Wie geht man dieses Projekt an? Wie schwer kann es ein, den Duden zu unterwandern? Einen Wikipedia-Artikel anzulegen? Das Trademark "Heckleresk" zu SEO-optimieren? Möglichkeit: Das Wort subtil in Funk und Fernsehen lancieren.

    Irgendein Sommerinterview:

    Olaf Scholz: "Wir müssen die Komplexität vereinfachen, die Vereinfachung komplizieren."

    Interviewer: "Bei allem Respekt, Herr Bundeskanzler, diese Aussage ist heckleresk. Geht es auch konkreter?"

    Olaf Scholz: "Die Lösung liegt in der Lösung, nicht im Problem."

    Interviewer: "Um Gottes Willen. Das ist das Hecklereskeste, das ich je gehört habe. Interview abbrechen."

    Aufnahmeleiter, flüsternd: "Wahnsinn. Als wäre Heckler sein Redenschreiber."

    Eine übellaunige Rezension:

    Buch XY ist ein Nullsätze und Schrottphrasen aneinanderreihendes, geradezu hecklereskes Machwerk. Zu keinem Zeitpunkt wird klar, worum es überhaupt geht. Humor, Plot, doppelter Boden: Fehlanzeige. Man könnte die 400 Seiten dieser bedauerlichen Neuerscheinung mit der Duden-Definition von "heckleresk" zusammenfassen: auf erschreckende Weise nichtssagend.

    Ich werde als Adjektiv in die deutsche Sprache eingehen, koste es, was es wolle!

  • Ein Rendezvous

    14.12.2023

    Mal was Lebensbejahendes zum Wochenstart, ein bisschen Trost! Moment mal, heute ist gar nicht der Wochenstart. Heute ist Donnerstag. VIELSAGENDER IRRTUM. Zweiunddreißig Jahre alt und verwechselt den Donnerstag mit dem Montag. Bürgerlichkeit geht anders! Wie dem auch sei. Viel Spaß mit dieser nicht-katastrophalen, mein in Wahrheit zugewandtes, großes, warmes Herz zeigenden Schilderung einer Begegnung zwischen Mann und Frau.

    Hinter dem Tresen warf ein altersschwacher Beamer Musikvideos aus den Neunzigerjahren auf eine Leinwand. Tic Tac Toe, Nirvana, Spice Girls, sowas. Der Wirt hatte sich schon seit einer halben Stunde nicht blicken lassen. Die vier Gäste hatten angefangen, sich selbst aus dem Kühlschrank in der Ecke zu bedienen. Nicht ohne ordnungsgemäß Strichliste zu führen. Im Casablanca haute man sich nicht übers Ohr.

    Zwei der Gäste hatten ein Date. Es lief sehr gut. Er, groß, wahnsinnig dünn, kariertes Kurzarmhemd der C&A-Hausmarke Clockhouse, helle Jeans, braune Sneakers, schütteres, tapfer quer über den Kopf gekämmtes Haar, war charmant, unterhaltsam, witzig. Seine anfänglich sehr große Aufregung hatte sich nach drei Bier in einen erleichternden Redefluss, eine Top-Performance, in die Wahrnehmung einer der letzten sich bietenden Chancen verwandelt.

    Ewig hatte er gebraucht, um den Mut aufzubringen, sich bei einer Dating-Plattform anzumelden, und dann nochmal ewig und drei Tage länger, um das virtuelle Schweigen zu brechen und seinem Match zu schreiben. Sie antwortete schon eine Stunde später, stellte interessierte Rückfragen, war aufmerksam.

    Sie hatte den ganzen Weg von zuhause zum Casablanca eine Wahnsinnsangst vor der nächsten Zurückweisung. Auf den Fotos in der App sah sie dreißig Kilo leichter aus, als sie war. Sie wollte die Bilder schon mehrmals durch realistischere Aufnahmen austauschen, aber sie hielt ihren eigenen Anblick nicht aus. Sie kam sich so schrecklich dick, so enorm, so bildschirmfüllend vor, wie Ballast oder Sperrgepäck inmitten lauter schöner Menschen. Wer würde bei ihr freiwillig auf Yes swipen, wenn sie sich ohne kleine Schummeleien und günstige Winkel präsentierte? Wahrscheinlich nur Freaks, Leute aus Special-Interest-Foren, oder Frauenhasser, die sich an besonders hässlichen Exemplaren ergötzten. Hatte sie alles schon erlebt.

    Er mochte Filme, so wie sie. Beide hatten eine große Leidenschaft für Humphrey Bogart, im Chat drehte sich bald alles um Kult-Streifen der 40er und 50er Jahre. Schnell war ihm klar, welchen Treffpunkt er für ein erstes Treffen vorschlagen würde. Im Casablanca, wo, wenn nicht da. Sie willigte ein.

    Es würde das erste Mal seit acht Jahren sein, dass er in eindeutiger Absicht eine Frau treffen würde. Er war achtundzwanzig, sah aber aus wie Mitte Vierzig und fühlte sich oft auch so. Bevor er das Haus verließ, putzte er penibel mehrfach seine Zähne und benutzte Mundwasser.

    Als sie schon an der Bushaltestelle ausgestiegen war, nahm ihre Angst überhand, und sie schickte ihm ein Foto ihres Ist-Zustands. Nur, damit du weißt, wer da gleich auf dich zukommt, schrieb sie dazu. Sehr schöne Bluse, schrieb er zurück. Als sie die Nachricht sah, kamen ihr die Tränen. Mein Gott, dachte sie.

    Ihre Augen waren sogar noch schöner als auf den Fotos. Er reichte ihr mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck die schweißnasse Hand. „Bin ein bisschen aufgeregt“, sagte er.

    Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht sofort zu sagen: Ich liebe dich. Stattdessen stellte sie sich mit Namen vor: „Vanessa.“

    „Ich weiß“, sagte er, „Hallo Vanessa. Harald.“

    Er hatte ein Hotelzimmer in der Nähe angemietet. Er wohnte noch bei seiner Mutter. In einer Einliegerwohnung mit eigenem Eingang, aber trotzdem. Was auch immer passierte, dahin kam nicht infrage.

    Sie mochte Kalendersprüche, weil sie wusste, dass sie wahr sind. Die Augen sind das Fenster zur Seele. Und seine Seele sah genauso aus wie ihre. Trotz aller Zerknitterungen, stumpfen Wunden und Wackelkontakten noch schimmernd, ein gebrauchter und gerade deshalb wertvoll gewordener Gegenstand.

    Er war so dünn, qua Körper völlig schutzlos. Es dauerte einige Minuten, bis er sich überwinden konnte, seine Hab-Acht-Stellung (eingezogene Schultern, Arme vor dem Körper verschränkt) aufzugeben. Flüchtig und aus Versehen berührten sich ihre Hände, als sie ihren Hocker zurechtrückte. Es war, als würde sich ein Schaltkreis schließen. Heute würde niemand am anderen Schaden nehmen. Heute würde alles gut werden. Nach dem vierten Bier sagte sie: „Komm, wir gehen.“

    „Ich kenn ein schönes Hotel um die Ecke“, sagte Harald. Trotz seiner inzwischen 1,4 Promille überfuhr ihn die Aufregung wie ein Güterzug. Er hatte noch nie Sex gehabt. Heute würde es passieren. Auf dem Klo schmiss er sich eine Viagra rein. Seinem Körper hatte er noch nie vertraut. „Alles wird gut“, flüsterte er seinem Spiegelbild in dem milchigen Toilettenspiegel zu. „Alles wird gut. Lieber Gott, bitte mach, dass alles gut wird.“ Fünf Pumpstöße Mundspray und ein Vaterunser später traute er sich wieder raus.

    Als er ihr die Tür aufhielt, brachte er ein Casablanca-Filmzitat. Hatte er sich davor zurechtgelgt. Sie machte ein verheißungsvolles Geräusch, eine Mischung aus Kichern und Schnurren, dann schwang die Tür zu.

  • Der Steppenwolf

    13.12.2023

    Er hat in seinem Leben eine Handvoll Bücher gelesen, mit Abstand am besten fand er Hesses Steppenwolf. Ganze Seiten hat er unterstrichen, einzelne Passagen liest er seinen wechselnden Liebschaften vor, wenn sie danach in seinen Armen liegen. Sind immer ganz begeistert, die Weiber. Und werden nach andächtigem Lauschen der Passagen sicher auch verstehen, dass er morgen Früh wieder weg sein wird.

    Denn auch er ist ein Steppenwolf, ein Weiterzieher, ein Heimatloser, der sich aus dem Hubschrauber über unwegsamem Gelände abwerfen lässt und dann wochenlang ums Überleben kämpft, um überhaupt noch was zu spüren. In Tasmanien hat er mal aus Verzweiflung dreckiges Wasser getrunken und wäre fast verreckt. Drei Tage hat er sich neben dem Zelt die Seele aus dem Leib geschissen, fünf Kilo verloren, bis er wieder genug Kraft hatte, um seinen Rucksack zu schultern. Seitdem hält er sich nicht mehr für unsterblich.

    Der Vorfall hat an seinem Selbstvertrauen gekratzt, er ist vorsichtiger geworden. Seit einigen Monaten wird er von dem immergleichen Albtraum heimgesucht, in dem er sich das Knie verdreht und der Arzt ihm die vernichtende Botschaft überbringt: nie wieder wandern. Wenn es wirklich mal so kommt, wird er sich - wenn nötig unter Morphium - ein letztes Mal auf einen Gipfel kämpfen. Und wenn die Sonne aufgeht, wird er seine Arme ausbreiten wie Adlerflügel, Anlauf nehmen und abheben, in die Freiheit. Aber noch tragen ihn seine Beine.

    Ruhelos zieht er herum, schläft lieber im Zelt als in Häusern, schafft es nicht, mehr als zwei Tage unter Menschen zu verbringen. Er lässt sich am Nordpol aussetzen, rennt wie ein Besessener immer tiefer ins Packeis. Zwei Zehen seines rechten Fußes werden schwarz, vor Kälte spürt er sein Gesicht nicht mehr. Hat er genug Proviant dabei? Ruhig, denkt er. Beruhige dich. Als vor ihm die Polarlichter das Firmament in ein außerirdisches Grün tauchen, kommen ihm die Tränen. Ich bin so frei, denkt er.

  • Bring es auf den Platz oder stirb!

    29.11.2023

    Im Fußball gilt: Man muss es auf den Platz bringen. Das ist alles, was zählt. In der Schreiberei, so wie in allen anderen Hochleistungsgebieten, gilt dasselbe. Stipendien, Preise, Fellowships, Kurz- und Kürzestgeschichten in irgendwelchen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle vor sich hin sterbenden Spartenmagazinen interessieren niemanden. Man kann trainieren, so gut man will, entscheidend ist einzig und allein, OB MAN ES AUF DEN PLATZ BRINGT. Der Platz ist der Buchhandel, „es“ ist das Buch. Der Roman. Fertig, Aus.

    Wenn man es nicht auf den Platz bringt, landet man in der Oberliga, wo man von einem örtlichen Bauern-Mäzen mit einem dreistelligen Kleckerbetrag privatfinanziert wird, und die Lüge lanciert, man habe mal höher gespielt. Irgendwann beginnt man auch, mit dem Alter zu lügen. Aber der geriatrische Laufstil wird einen verraten. Irgendwann wird man auch in der Oberliga aussortiert und nach unten durchgereicht in die Kreisklasse, wo der Weg zu Auswärtsspielen keine zwanzig Minuten mehr dauert. Auch da überzeugt man nicht. Man macht einen letzten Anlauf in einer Hobbyliga, dort erleidet man einen Ermüdungsbruch beim Aufwärmen. Und das war es dann wirklich.

  • Ein Buch ist kein Buch

    29.11.2023

    Ein Buch ist kein Buch. Jemand, der ein Buch veröffentlicht hat, ist immer noch ein Autoren-NICHTS, eine Eintagsfliege kurz vor der Zermatschung, dem Vergessen anheimgefallen schon im Moment der wenig Aufsehen erregenden Publikation. Erst mit dem zweiten Buch wird die Ein-Mann-Zeichenschrottfabrik, der Wörter-Aneinader-Reih-Hanswurst, der Möchtegern-Alles und In-Wahrheit-Nichts zum Schriftsteller.

    Erst mit der Veröffentlichung des zweiten Buchs hat er die Nachhaltigkeit seines Tuns, die Persistenz seines Schaffens, die Langlebigkeit seiner Ambitionen bewiesen. Oft ist das zweite Buch ein lauwarmer Abklatsch des ersten, oder eine formal-experimentelle, unlesbare Peinlichkeit, selten bis sehr selten besser als das erste Buch. Erst im dritten Buch ist wieder mit etwas anderem als einem verzweifelten, aus der Not geborenen Buchstaben-Hilfeschrei zu rechnen. In diesem Sinne eine präventive Entschuldigung: Man sehe mir den dramaturgischen und stilistischen Totalausfall nach, den ich hoffentlich bald (wie lange halte ich noch durch?) dem Feuilleton zur Vernichtung vorwerfe.

    Vielleicht kommt aber auch nie wieder was. In diesem Fall war ich nur eine Fata Morgana, habe ich nie existiert, war mein Mimikry einer Autoren-Karriere nur ein lästiges Störgeräusch im Raum-Zeit-Gefüge. Ich weiß nicht, welche Option die für die Öffentlichkeit weniger ärgerliche ist. Ach, was rede ich. Die Öffentlichkeit interessiert das nicht.

  • Wie ein Sonnenuntergang auf einem Vulkan

    10.10.2023

    Michi und Patti sind schon lang zusammen, sehr lang. Seit der Oberstufe auf dem Gymnasium. Inzwischen sind beide 31. Sie haben beide BWL studiert, in einer kleinen Universitätsstadt in Bayern. Da sind sie zum ersten Mal zusammengezogen. Michi, ein krankhaft ordentlicher Typ, war entsetzt über Pattis Art zu wohnen. Überall ließ sie ihre Klamotten liegen, nach dem Kochen wischte sie die Arbeitsflächen nicht oder nur schlampig ab. Er fand das widerlich, sagte aber nie was. Nach ein paar Monaten hatte er sich daran gewöhnt.

    Heute sind beide Gutverdiener, er im Vertrieb, sie im Marketing, aber beide empfinden innere Qualen bei dem Gedanken, Geld auszugeben. Ihre obsessive Sparsamkeit hält sie zusammen. Im Sparen sind sie ein Team. Sie gehen zusammen zu Supermärkten, um abgelaufene Lebensmittel abzuholen. Nicht aus Umweltbewusstsein, sondern ausschließlich aus Geiz. Sie recherchiert, wo es was gibt, er trägt. Manchmal ganze Stiegen Heringssalat über dem Verfallsdatum, abgelaufene Tomatensoße, leicht angeschimmelte Obstkisten. Michis dünne Arme zittern unter der Last der Stiegen.

    Patti ist eine Meisterin darin, die abgelaufenen Sachen aufzubereiten, in verdorben und brauchbar zu teilen und länger haltbar zu machen. Dafür bewundert er sie. Sie kann das fast so gut wie seine Mutter. Überhaupt sieht Patti ein bisschen so aus wie seine Mutter. Ein bisschen dicker vielleicht. Er findet sie schon immer zu dick, sagt aber nichts. Sie spürt seine Unzufriedenheit, isst wenig und geht sehr oft Laufen, nimmt aber einfach nicht ab. Die Arme, denkt er. Er sieht ja, wie sie sich quält. Er selbst ist dünn an der Grenze zu dürr. Auch seine Haare werden immer dünner, mit unerbittlicher Langsamkeit breitet sich eine kreisrunde, kahle Stelle auf seinem Hinterkopf aus.

    Sex haben sie überhaupt nicht mehr. Sie reden aber nicht darüber. Obwohl Michi und Patti seit zwölf Jahren zusammen sind, machen sie immer nur Small Talk. Allgemeinplätze, Worthülsen, Nullsätze, sie reden miteinander, als hätten sie sich gerade auf einer Vertriebler-Messe kennengelernt.

    Wenn sie beruflich unterwegs ist, legt er seine Sessions ein, wie er sie nennt. Er schaut sich dann stundenlang SM-Pornos an, bis er vor Geilheit fast platzt, untersagt sich aber den Höhepunkt. Manchmal fasst er sich gar nicht an und geht dann mit seinem brettharten Schwanz ins Bett. Er ist manchmal so erregt, dass er nicht einschlafen kann. Das ist sein Ding. Wenn er morgens aufwacht und seine Unterhose klebrig ist, weil der Körper sich in der Nacht entladen hat, denkt er: Konntest du dich mal wieder nicht zurückhalten, du Schwein.

    Dann heißt es für ihn: Abpritzverbot für zwei Monate mindestens. Wenn Patti sich während eines solchen Embargos annähert, rückt er fast panisch weg von ihr. Mach es nicht kaputt, du dumme Kuh, denkt er. Sagen tut er nichts.

    Sie versteht nicht, was los ist, findet er sie denn wirklich so gar nicht mehr geil? Es wirkt fast, als würde er sich vor ihr ekeln. Dabei sieht sie doch wirklich noch annehmbar aus. Im Gegensatz zu ihm, muss man sagen. Richtig knochig ist er geworden. Er hat in den letzten Jahren eine hysterische Abneigung gegen Teig entwickelt. In Restaurants, wenn sie schon mal in eines gehen, weil die so eine günstige Mittagskarte haben, verzieht er das Gesicht und sagt: Puh, da ist ja überall so viel Teig drin. Auch diese dauernde Rennradfahrerei. Wenn er samstags Hundertzwanzig Kilometer radeln geht, trifft Patti sich manchmal mit einem Arbeitskollegen, und sie ficken dann. Der Arbeitskollege ist verheiratet und hat zwei Kinder. Patti fühlt sich danach immer unerträglich schuldig, aber währenddessen geht es ihr wenigstens zehn Minuten in der Woche gut.

    Michi benutzt abends immer minutenlang Wattestäbchen, um seine Ohren zu reinigen. Diesen Vorgang, wie er sich das Stäbchen reinschiebt, findet Patti so eklig, dass sie das Bad verlassen muss. Zwölf Jahre schon, denkt sie manchmal. Wie lange muss ich das noch aushalten? Dann beginnt sie zu weinen, das ist echte Verzweiflung, sie sieht keinen Ausweg, sie weiß nicht, was sie machen soll.

    Der Arbeitskollege trennt sich von seiner Frau. Bitte nicht, denkt Patti, bitte nicht auch das noch. Er bombardiert sie mit Nachrichten, er will niemanden außer sie, er will, dass sie mitkommt nach NRW, wo er ein neues Leben anfangen will, weit weg von seinen Kindern und nah bei seinen Eltern. Sie will das auf keinen Fall, aber manchmal wird ihre Verzweiflung so groß, dass sie ALLES machen würde, um von Michi wegzukommen. Sie stellt sich oft vor, dass er bei einem tragischen Unfall sterben würde. Bei einer Rennradtour von einem Auto überfahren. Das wäre perfekt für sie. So könnte sie ohne Schuld ein neues Leben anfangen. Was für ein furchtbarer Gedanke. Dabei liebt sie ihn doch. Sie sind doch schon so lange zusammen. Obwohl sie es noch nie ausgesprochen hat, ist sie überzeugt davon, dass ihre und Michis Beziehung, ihre Liebe, heilig sind. Und dass sie, wenn sie sich trennt, in die Hölle kommt.

    An diesem Abend versucht sie, mit Michi zu schlafen. Er verzieht das Gesicht, als sie ihr T-Shirt über den Kopf streift. Sie beginnt zu weinen und verlässt die Wohnung. Nach zwei Stunden ist sie wieder zurück und entschuldigt sich. Warum entschuldigt sie sich immer für alles?

    Lang geht das nicht mehr gut, spürt jetzt auch Michi. Er muss was machen, sonst ist sie vielleicht weg. Der Gedanke, aktiv werden zu müssen, nervt ihn, aber die Vorstellung, dass sie eines Tages wirklich weg sein könnte, macht ihm auch Angst. Eigentlich liebe ich sie doch, denkt er. Dann macht er einen Vorschlag: Lass uns doch einen Urlaub machen. Einfach mal raus. Was Neues erleben. Sie einigen sich auf Mexiko.

    Der Flug ist eine Zumutung. Michi und Patti, beide ziemlich groß, quetschen sich in die viel zu enge Sitzreihe der Billig-Airline. Sie müssen dreimal umsteigen, das war die günstigste Option. Sie fliegen ein groteskes Zickzack über die ganze Welt zusammen, Klima egal, ihnen kann keiner was vorwerfen, schließlich fressen sie seit Jahren verdorbene Lebensmittel. Weil in allen Flugzeugen Essen und Trinken extra kostet, nehmen sie zwanzig Stunden lang überhaupt nichts zu sich. Als sie in ihrem Hostel in Mexiko City ankommen, haben beide hämmernde Kopfschmerzen. Zweierzimmer, das dann doch. Da hat er sich nicht lumpen lassen.

    Die Ausgaben auf der Reise tragen beide auf den Cent genau in die App Splitwise ein. So wissen sie immer ganz genau, wer was ausgegeben hat. Einmal sagt Patti: Oh, ich schulde dir gerade sieben Euro. Michi sagt: Dann zahlst du halt gleich das Mittagessen, dann passt es wieder. Er lächelt, sie nimmt kurz seine Hand. Ein flüchtiger Moment der Erleichterung.

    Dann beginnt die Essenssuche. Es ist wie immer eine unendlich schwere Geburt. Alles ist zu teuer. Restaurants, die keine Karte draußen vor der Tür ausstellen, meiden sie grundsätzlich, da weiß man ja nie, was auf einen zukommt, und am Schluss zahlt man zwanzig Euro für eine kleine Portion. So dumm sind sie nicht. Wenn sie ein Lokal finden, das die Karte draußen hängen hat, rechnen sie mit ihrem Währungsrechner die Preise um und gehen, immer wenn das Ergebnis zweistellig ist, weiter. Street Food machen sie nicht. Das wäre billig genug, aber die Hygienebedenken überwiegen den Geiz.

    Nach drei Stunden erfolgloser Suche bekommt Patti langsam wackelige Knie. Michi hat auch extrem Hunger. Er atmet tief ein und aus.

    Nach fünf Stunden, es ist inzwischen Abendessenszeit, knicken sie bei einem unscheinbaren Lokal in einem nicht-touristischen Viertel ein. Das sieht doch okay aus, sagt Michi. Ja, lass uns das machen, sagt Patti. Die Preise sind zwar zweistellig, aber sie haben sich ja das Mittagessen gespart, so geht ihre Rechnung.

    Beide fühlen sich sehr untouristisch, als sie zwischen Einheimischen an Plastiktischen Platz nehmen. Hat sich der Weg schon gelohnt, sagt er. Das steht sicher in keinem Reiseführer, sagt sie. Der freundliche Kellner bringt hausgemachte Limonade, Michi bedankt sich mit seinem Schulspanisch, Patti korrigiert ihn liebevoll, als er einen grammatikalischen Fehler macht. Sie haben sich damals in der Schule im Wahlkurs kennengelernt. Und ganz kurz fühlt sich Patti wieder so jung wie damals. Plötzliche Euphorie durchzuckt sie, es ist doch eine Zukunft denkbar mit Michi, der sie so gut kennt wie keiner sonst, der immer schon an ihrer Seite war, und mit dem sie auch jetzt mit über Dreißig noch ganz neue Erfahrungen macht. Ohne nachzudenken, sagt sie: Lass uns ein Kind kriegen. Michis Lächeln friert ein. Zwei Minuten vergehen, ohne dass ein weiteres Wort fällt. Willst du denn gar nichts sagen?, sagt Patti. Das Essen ist immer noch nicht da. Sie stößt leicht auf und spürt, wie Säure von unten in ihre Speiseröhre dringt.

    Michis Magen krampft sich zusammen. Er sagt: Es ist doch so schön gerade. Lass uns doch einfach essen. In Ordnung, sagt sie. Sie lächelt gequält, er schaut auf die Tischdecke. Tut mir leid, schiebt sie hinterher. Diese ständigen Entschuldigungen. Aber sie kann einfach nicht anders.

    Heute ist doch der erste Urlaubstag, sagt er, ohne ein Spur von Mitgefühl in der Stimme.

    Immer wenn Patti spürt, dass sie wütend wird, verbietet sie sich den Durchbruch des Gefühls mit aller Macht. Sie unterdrückt ihre Wut schon so lange, dass ihre Sprechstimme unnatürlich gequetscht klingt. Unter dem Tisch zwickt sie sich so fest in den Handrücken, dass sie sofort einen blauen Fleck bekommt. Sie geht aufs Klo, weil sie dort schreien will, aber auch in der Kabine bringt sie nicht mehr zustande als zwei Seufzer. Als sie wiederkommt, hat der Kellner einen riesigen Fleischberg gebracht. Michi und Patti teilen sich die Portion. Es ist mehr, als zwei Personen essen können.

    Patti isst vor Verzweiflung fast gar nichts, und als auch Michi mit Bauchschmerzen seine Gabel sinken lässt, ist immer noch viel Essen übrig.

    Wenn Michi in seinem Leben eines gelernt hat, dann das: Man lässt nichts übrig. Eine Frage des Respekts. Früher musste er so lang am Tisch sitzen bleiben, bis sein Teller leergegessen war. Einmal, er muss Fünf oder Sechs gewesen sein, saß er bis Vier Uhr Früh vor einer Schüssel mit Kuttelsuppe. Mehrmals sank sein Kopf vor Müdigkeit auf die Tischplatte. Seine Mutter saß ihm gegenüber. Er betete, dass sie vor ihm einschlafen würde, aber er war chancenlos. Wenn er wegnickte, stieß sie ihn an, bis er wieder aufwachte, und deutete stumm auf den Teller. Er zwang sich Löffel für Löffel rein, elend langsam, über Stunden, und kämpfte bis zur Erschöpfung gegen den Brechreiz. Als der Teller endlich leer war, durfte er ins Bett gehen. Heute hält er diesen Vorfall für eine gute Erziehungsmethode und eine Lektion in Demut. Er nimmt die Gabel wieder in die Hand.

    Am Schluss ist nur noch die Garnitur übrig. Eine kleine, grüne Chilischote. Michi, der kaum noch atmen kann und das Gefühl hat, als würde seine Magenwand jeden Moment unter der Last des Fleischbergs nachgeben, verspricht sich von der Chili eine Verdauungshilfe. Hoffentlich ist die schön scharf und ätzt sich durch die Fleischfasern in seinem Inneren, hilft seinen überforderten Eingeweiden bei der Zersetzung.

    Im Vorbeigehen sieht der Kellner, wie Michi die kleine, grüne Frucht in die Hand nimmt, und sagt etwas auf Spanisch. Michis Sprachkenntnisse reichen nicht aus, um den Satz zu verstehen. Hilfesuchend schaut er zu Patti. Sie weiß sehr genau, was cuidado, muy picante bedeutet, zuckt aber nur mit den Schultern und sagt nichts. Bitte, Lieber Gott, lass es richtig brennen, denkt sie.

    Michi beißt in die Chili. Zuerst nimmt er eine fruchtige Süße wahr. Sogar sein kulinarisch ungebildeter Gaumen erkennt den Geschmack als edel und verblüffend vielschichtig. Er hat den ersten synästhetischen Gedanken seines Lebens: Das schmeckt wie ein Sonnenuntergang auf einem Vulkan. Er will Patti diesen Satz sagen, er will endlich mal was sagen, womit er sie beeindrucken kann, er weiß, dass er keine Geschichten erzählen kann, nie eine Pointe hinkriegt, er würde sie so gern mal zum Lachen oder zum Staunen bringen, aber er schafft es nie, und er schämt sich für sein Unvermögen. Er weiß, dass sie schlauer ist als er, und er weiß, dass sie ihn deshalb eines Tages verlassen wird. Diese Empfindungen und Ängste waren überlagert vom Feinstaub der gemeinsamen Jahre, aber hier, in der Fremde, kommen sie plötzlich wieder hoch. Als er den Mund öffnet, um das eben gefundene Sprachbild in den Raum zu entlassen, strömt Sauerstoff in seine Mundhöhle und in den Rachen, die Gefäße weiten sich, und die unvorstellbaren Mengen an Capsaicin in der Chili reagieren mit Michis empfindlicher Mundschleimhaut. So einen Schmerz hat er noch nie gefühlt. Als würde man einen eingewachsenen Zehennagel mit einem Bohrer freilegen, oder einen Becher mit Salzsäure über eine Schnittwunde schütten. Der Schmerz ist so heftig, dass er schreit. Dann verschließt sich aus Notwehr seine Luftröhre. Sie schwillt komplett zu. Michi springt auf und krallt sich in der Tischdecke fest. Sein Gesicht zieht sich im Todeskampf vor Panik zusammen. Es ist klein, rot und aufgebläht wie das eines Kugelfischs.

    Als Patti sieht, dass er stirbt, hat sie einen gleißenden Gedanken, der sich anfühlt, als würde ein abgebrochener Streichholzkopf auf der Haut abbrennen.

    Ich bin frei.

    Unklar, was erschreckender ist: Die Erkenntnis, dass sein Tod sich in Wirklichkeit genauso erlösend anfühlt wie in ihren Fantasien, oder die Tatsache, dass sie mindestens dreißig Sekunden lang reglos beobachtet, wie Michi bläulich angelaufen vergeblich nach Luft schnappt.

    Am Nachbartisch springt erst die Frau, Sekundenbruchteile später auch ihr Mann auf. Darling, he’s dying, ruft sie. Do something! Sind sie also doch nicht die einzigen Touristen in diesem Lokal. Darling, ein braungebrannter Glatzkopf mit auf drei Ebenen abzippbarer Multifunktionshose, greift in eine seiner siebzehn Hosentaschen, holt eine Spritze mit einer klaren Flüssigkeit hervor, packt Michi am Arm und sagt: Sir, i will give you an adrenalin shot. Dann rammt er ihm die Kanüle mitten ins Herz.

    Mit einem Gurgeln, als würde Badewannenwasser im Ausguss verschwinden, saugt Michi Luft in seine schon fast zusammengefallene Lunge.

    Als er etwa zehn Minuten später wieder in der Lage ist zu sprechen, sagt er: Ich will auch Kinder.

    Den ganzen Weg zum Hostel halten sie schweigend Händchen. Im Zimmer hat die Wirkung der Adrenalinspritze nachgelassen und Michi schläft in Sekundenbruchteilen ein.

    Als er am nächsten Morgen aufwacht, ist Patti weg. Einfach weg. Sie hinterlässt nichts außer einem formlosen Nachschimmern. Wie ein Sonnenuntergang auf einem Vulkan.