Bernhard Heckler

  • Hecklers Kuriositäten
  • Texte

Süddeutsche Zeitung

15.02.24

"Sie lenken ab, Herr Chrupalla"

Mayo und Leberwurst sind zwei prinzipiell schmackhafte Lebensmittel, aber wenn man sie zusammenmischt, dann wird es unappetitlich. Mit diesem kulinarischen Appell richtet sich der Fusion-Küche-Skeptiker und schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen an seinen Sitznachbarn bei Markus Lanz, Tino Chrupalla, den Co-Vorsitzenden der AfD. Keine Themen vermischen, die nicht zusammengehören! Wie gut Chrupalla aber genau das draufhat, lässt sich an einer späteren Stelle der Sendung gut beobachten. Markus Lanz ist im letzten Sendungsdrittel zu Hochform aufgelaufen und dabei, seinen Gast Chrupalla zu den Themen Brexit und einem möglichen Dexit ordentlich - um in der Begriffswelt der Kulinarik zu bleiben - zu grillen.

Kritik

Süddeutsche Zeitung

23.12.23

Viel Wind im Wein: F.J. Wagner bei Ronzheimer

Verbringen wir also einen Abend mit dem legendären Kult-Typen F.J. Wagner. Inhaltlich hangeln wir uns, unter sanfter Gesprächsführung von Ronzheimer, an Wagners Anekdoten durch dessen Biografie. Seine drei großen Interessen: Alkohol, Rauchen, Mädchen. Nicht Frauen, *Mädchen*. In Genf hat er angefangen zu rauchen, erzählt er. In Paris hat er weitergeraucht. Immer die Marke Gitanes, eine echte Künstlermarke, auch beliebt zum Beispiel bei Helmut Dietl, in dessen Bedeutungssphäre sich auch Wagner sehr zu Hause fühlt. Gitanes bedeutet übersetzt "Zigeuner", das gefällt dem Zeitgeist-Verweigerer Wagner natürlich besonders gut. Als junger Raucher und Schriftsteller-Aspirant trägt Wagner im Sechzigerjahre-Paris einen existenzialistischen, schwarzen Rollkragenpullover und erhält im Café de Flore Creative-Writing Tipps von Jean-Paul Sartre. Sinngemäß sagt Sartre: Schreiben Sie doch auf jeden Fall etwas ganz anderes als den Schrott, den Sie mir hier gerade zu lesen gegeben haben. Wagner hört auf den Meister und schreibt fürderhin ganz anderen Schrott, wird erfolgreicher und erfolgreicher. Er raucht und säuft sich quer durch die Kriegsgebiete der Welt. Vietnam, Golan-Höhen, Yom-Kippur-Krieg. In Vietnam sieht er "schöne Mädchen in weißen Blusen", die Blumen in ihren Fahrradkörben herumfahren. Man hört seinen Trademark-pathosgeschwängerten Ausführungen mit voyeuristischer Fassungslustlosigkeit zu und denkt an die Sentenz des Schriftstellers Heinz Strunk: "Die ganze Welt bereist und nichts gesehen." Wagner ist kein Seher, eher ein Riecher. Ihn interessiert: Wie riecht der Krieg? Wie riecht ein toter Mensch? Wie riecht die Haut von Boris Becker? Laut eigener Aussage hat er "von mehreren Chefredakteurinnen" den Reporter-Auftrag bekommen, an dem 17-jährigen Bobbele herumzuschnuppern und herumzugrabbeln, um herauszufinden, wie sich die Haut des Tennis-Wunderknaben anfühlt.

Rezension

DIE ZEIT

23.12.23

Tokio: Einer ist ne Party!

Erster Gedanke beim Betreten der New York Bar im 52. Stock des Park Hyatt, [Tokio](https://www.zeit.de/thema/tokio): Größer wird die Welt nicht mehr für einen Bauernlümmel wie mich. Das Licht ist perfekt gedimmt und weich, sodass die auch so schon attraktiven Gäste noch schöner aussehen. Draußen funkeln die Lichter der Stadt. Es ist die Art Panorama, die sich auf Fotos nicht überträgt, zu überwältigend für die Kameralinse. Das Hummer-Mac-and-Cheese-Sandwich und der French 75 vor mir an der langen Tafel, an der ich zwischen gut angezogenen Fremden sitze, die Jazzband hinter mir: fühlt sich nach großer Leinwand an. Kein Wunder, dass sich hier – Achtung, Jubiläum! – vor zwanzig Jahren [Bill Murray](https://www.zeit.de/thema/bill-murray) und Scarlett Johansson in [Sofia Coppolas Filmklassiker *Lost in Translation*](https://www.zeit.de/2017/22/caren-miosga-tagesthemen-lost-in-translation) ineinander verliebten. In dieser Bar mit cineastischen Blau- und Rottönen, puristischen Holzmöbeln und Ausblick über das Szeneviertel Shinjuku muss man sich einfach verlieben. Und sei es nur in die Aura des Ortes, die jede Banalität des eigenen Daseins verschluckt.

Reportage

Süddeutsche Zeitung

23.12.23

Danach ist man body-positiver als davor

Die Annäherung an die japanische Netflix-Serie *Sanctuary*, ein Sumoringer-Epos, das einem Outlaw aus ärmlichen Verhältnissen auf seinem Weg zum Top-Sumo folgt, beginnt dokumentarisch, mit dem Besuch eines echten Sumostalls, eines Wohn- und Trainingszentrums für Profi-Sumoringer, im echten [Tokio](https://www.sueddeutsche.de/thema/Tokio). Das öffentliche Training beginnt um acht Uhr an einem kalten Dezembermorgen in einer unbeheizten Halle. Der Zuschauer, in einen unvollständigen Schneidersitz an den Rand gefaltet, kann seinen Atem sehen und außerdem das beeindruckende Aufwärmprogramm von sechs Top-Athleten, die nach Body-Mass-Index-Kriterien als adipös gelten würden: Männer mit bis zu 200 Kilogramm Körpergewicht bei 1,80 Metern Körpergröße. Die vermeintlich fettleibigen Profi-Sumoringer des erst 2022 gegründeten Oshiogawa-Stalls, eines von insgesamt 44 Sumoställen in Japan, überraschen aber mit enormer Stärke und Beweglichkeit. Auf eine perfekt rechtwinklige Sumo-Hocke folgt eine enorme Anzahl an Kniebeugen und schließlich ein alle Regeln der Gravitation aushebelnder Seitspagat, der den schon nach zehn Minuten Schneidersitz an Hüftschmerzen laborierenden, normalgewichtigen Zuschauer vor Scham erröten lassen würde, wäre es nicht so kalt.

Rezension

Süddeutsche Zeitung

13.12.23

Tokyo Comic Con: C-Promis günstig im Doppelpack

Ein Abstecher in die andere Halle - wie läuft es bei den Star-Wars-Boys? Temuera Morrison hat auf seinem tageslichtlosen Platz eine große Sonnenbrille aufgezogen. Um die Tränen zu verbergen, die seine im Vergleich geringere Popularität ihm in die Augen treibt? Bei ihm stehen fünfzehn Leute an. Bei Daniel Logan nebenan genau fünf. Das hat aber keinen Einfluss auf dessen unverwüstliches Lächeln. Er trägt ein liebes Hemd mit einem rosa Anime-Kätzchen auf der Brust. Pro Fan nimmt er sich satte 60 Sekunden. Und er umarmt seine Fans. So wie er seinen Platz in der Star-Rangordnung zu umarmen scheint. Keine Bitterkeit im Blick. Er ist zum vierten Mal zu Gast auf der Tokyo Comic Con. Am häufigsten eingeladen von allen, vielleicht gerade weil er so unkompliziert und preiswert ist.

Reportage

DIE ZEIT

26.10.23

Update Wien: Erkunden Sie das Gehirn von Mozart

"An welcher Tür man auch läutete, immer öffnete sich natürlich die andere." Dieses Zitat steht im Mezzanin eines Altbaus in der Berggasse 19, wo der Besucher die Wahl hat: Entweder er besucht rechts die Ordination (deutsch: Praxis) des großen Sigmund Freud. Oder links seine 2020 für die Allgemeinheit eröffneten Privatgemächer. Ziemlich leere Räume: Kurz vor seinem Tod musste der jüdische Freud aus dem nationalsozialistisch besetzten Wien nach London emigrieren und nahm sein Mobiliar mit, samt weltberühmter Couch. Übrig blieben vereinzelte Möbel und Habseligkeiten wie eine von Freuds Brillen mit runden Gläsern. Schrifttafeln verraten einem, wo man jeweils steht: Ah, dieser zentrale Raum hatte die Oldschool-Funktion, rein dem Vergnügen von Männern zu dienen (das Herrenzimmer). Historische Fotos zeigen die originale Einrichtung der Zimmer. Der Rest ist Fantasie. Und Leerstellen sind ja tolle Projektionsflächen im Sinne der Psychoanalyse: Der Fleck an der Tapete – hat Anna Freud in Rage ein rohes Ei nach ihrem Vater geworfen? Diese Schliere am Boden: getrocknete Tränen Freuds?

Reportage

SZ Magazin

22.09.23

Volle Kraft voraus!

Unser Autor nimmt sich vor, zu den kräftigsten fünf Prozent aller Menschen zu gehören. Wie will er das schaffen? Und, um Himmels willen, warum?

Reportage

ZEITmagazin

22.09.23

Bussi! Was macht München liebenswerter?

Manchmal schreibe ich mit, was ich beim Eiscafé Italia höre, sehe und erlebe. Hier meine Aufzeichnungen vom 23. April 2022. *Pickelgesichtiger Teenie küsst zahnspangige Freundin. Elio zur Freundin: "Der fällt über dich her, als wär der Jahrmarkt in der Stadt."* *Freundin kichert, zack, schon stehen zwei Campari-O auf dem Tisch. "Aufs Haus, ihr Turteltäubchen, pregooo." Das langgezogene Prego ist sein Schlachtruf der unverwüstlichen Laune.* *"Einmal Zauberwasser." – "Pregooo." – "Einmal Schinken-Käse-Toast." – "Pregooo." – "Habt ihr auch einen Amaro aus Norditalien?" – "Wir haben gar nix aus Norditalien, alles aus Norditalien ist scheiße." (Die Familie Ferraro kommt aus Neapel.) "Außer der Fußball, der ist erfolgreich." – "Erfolgreich heißt nicht, dass die Scheiße nicht scheiße ist." (Ein sehr guter, wahrer Satz.) Am Nebentisch verlangt eine etwa hundertjährige Dame nach einem Banana Split. "Kommt sofort, junger Hüpfer. Mit extra Sahne, abnehmen kannst du morgen wieder. Pregooo."*

Reportage

DIE ZEIT

08.12.22

Göttlicher Wahnsinn

Wie Lekiy den Kleinbus die Schotterserpentinen hinunterschraubt, ist beeindruckend. Nach einer atemberaubend engen Serpentine klopft er lachend auf den Holzpenis am Rückspiegel: "For safe driving!" Am Ziel angekommen, rennt Lekiy die drei Meter von der Bustür zum Tor in einem Zaun und öffnet es für uns. Ein Steinweg führt von dort durch einen kleinen Garten zu einem farbenfrohen Tempel. Weiter hinten steht ein dunkelbraunes Holzhaus: Eine Legende besagt, dass der Göttliche Wahnsinnige einst einen Pfeil aus Tibet abgeschossen hat, etwa 300 Kilometer Luftlinie entfernt, der in diesem Haus gelandet ist. Die Frau, die damals hier wohnte, erklärte der Göttliche Wahnsinnige kurzerhand zu seiner Frau. Er hatte außerdem noch 5000 andere Frauen. Den Göttlichen Wahnsinnigen gab es – Legenden beiseite – wirklich. Sein weltlicher Name war Drukpa Kunley, er lebte angeblich von 1455 bis 1529 und gilt als der Begründer einer besonderen Form des Buddhismus, die Dorji Bidha "tantrischer Buddhismus" nennt. Passend zu unserer Wandertour kann man den Kern des "tantrischen Buddhismus" so beschreiben: Der Weg ist das Ziel. Und der soll mit Lebensfreude beschritten werden. Vier verschiedene Symbole gehen auf den Göttlichen Wahnsinnigen zurück, sie zieren häufig Hauswände: der Penis mit dem Auge, der böswilligen Klatsch und Tratsch fernhalten soll; der Penis mit dem Sperma, der Fruchtbarkeit bringen soll; der Penis mit dem Schal, der alle Sünden beseitigen soll; und schließlich der Penis mit dem Schnurrbart, der böse Geister besiegen soll. Während Dorji das erzählt, nicke ich seriös, schreibe mit, und kein einziger pubertärer Lacher verlässt meine Lippen. Anwesende bhutanische Mönche und Guides tuscheln deutlich wahrnehmbar über mich. Dorji sorgt für Aufklärung: "Du siehst aus wie Zhabdrung, der Große Vereiniger." Ein Blick auf eine Statue im Tempel bestätigt ihren Eindruck: Die bhutanische Gottheit Zhabdrung ist ein Mann mit Bart, eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen. Zhabdrung gilt als Begründer Bhutans. Ich frage meinen Wander-Buddy Ben, ob auch er mit diesem schmeichelhaften Vergleich bedacht wurde. "Nein", seufzt er, "Dorji hat gesagt, ich sehe eher aus wie ein Zwerg aus Herr der Ringe." "Für mich siehst du aus wie eine Gottheit", tröste ich ihn. Er lächelt schwach.

Reportage

DIE ZEIT

08.10.22

Oktoberfest: "Nicht mal der Lauterbach kann uns jetzt noch stoppen!"

*Für die ['Disko Deutschland'](https://www.zeit.de/serie/disko-deutschland "https\://www.zeit.de/serie/disko-deutschland") besuchen Reporterinnen und Reporter Orte in allen Ecken der Republik – und kehren regelmäßig dorthin zurück.* Tag des Anstichs, 11.50 Uhr. Stefan Schneider, ehemaliger Stadionsprecher des TSV 1860 München, steht auf der Bühne und stimmt das randvolle Zelt auf das "Corona-Comeback" ein. Der Sicherheitschef Fabio Innocente peitscht seine Leute an, die Wege frei zu halten: "Die müssen laufen, keiner soll am Gang stehen bleiben!" Die Kellnerin Anna macht sich bereit für den ersten Gang von der Schänke mit acht Maß Bier in den Händen. Und ein junger Security-Mann steht draußen am Eingang ohne Jacke im Regen und friert. Tag eins des Münchner [Oktoberfests](https://www.zeit.de/thema/oktoberfest). [Bräurosl-Wirt Peter Reichert](https://www.zeit.de/2022/37/oktoberfest-muenchen-wiesn-braeuroslzelt-wirt) hat es nach seinem ersten Festzug durch die Münchner Innenstadt trocken von der Pferdekutsche in sein Zelt geschafft. Er steht auf der Bühne vor 8000 Gästen: "Äußerlich bin ich trocken geblieben, und gleich werd ma innerlich nass!" Das Fass steht bereit, der Hacker-Pschorr-Chef Andreas Steinfatt hat den Zapfhammer schon in der Hand. Schneider zählt rauf bis zwölf, zwölf ist die magische Zahl, um zwölf beginnt die Wiesn. "NEUN! Wer hat Bock auf Hacker-Pschorr?" Das Zelt: "Heeeey!" "ZEHN! Wo sind die Münchner? Wer kommt aus der schönsten Stadt der Welt?" Mindestens 7000 von 8000 Gästen: "Heeeey!" "ELF!" "Hey, hey, hey, hey!" "ZWÖÖÖLF", schreit Schneider. "Ozapft is!!" Jetzt gilt’s. Jetzt müssen innerhalb von einer halben Stunde 7500 Liter Bier unter die Leute gebracht werden – das ist die Benchmark, die Reichert sich selbst gesetzt hat: Um halb eins sollen alle was zum Trinken haben. Er fuchtelt und dirigiert. Anna, mit acht Maß Bier (knapp 20 Kilo) in den Händen: "Ich hab vergessen, wie schwer das ist."

Reportage

ZEITmagazin München

18.09.22

Was kann die Welt vom Hasenbergl lernen?

**ZEITmagazin:** Wo kann man nach dem Feiern den schönsten Sonnenaufgang sehen? **Berschgo:** Hier im [Hasenbergl](https://www.zeit.de/thema/hasenbergl). In Long Beach, das ist ein kleiner Spielplatz, den man so nennt, weil da Palmen sind. **ZEITmagazin:** Wohin bringt ihr eure neue Liebe, um sie zu beeindrucken? **Beide:** Las Vegas! **Ricardo:** Oder Paris. Die Stadt der Liebe. Wenn ’s [Geld](https://www.zeit.de/thema/geld) stimmt, fahren wir überallhin, ge? **ZEITmagazin:** Nirgendwohin in [München](https://www.zeit.de/thema/muenchen)? **Berschgo:** Für mich muss es nicht immer Luxus sein. Mir reicht es, wenn sie hier ist mit mir. **Ricardo:** Sie soll auch sehen, wie es hier ist. Wie es aussieht, wie wir aufgewachsen sind.

Interview

DIE ZEIT

18.09.22

"Bei mir gibt's die Watschn rückwärts"

An einem sonnigen Vormittag elf Tage vor Anstich tummelt sich die Münchner Bier-Royalität vor dem Eingang der Prachtkirche St. Paul am Rand der Festwiese. TV-Reporterinnen erwarten die eintreffenden Wiesnwirte. Der Wirt des Weinzelts kommt auf einem gigantischen E-Mountainbike vorgefahren ("Respekt, mitm Radl!"). Auf die Sekunde pünktlich zur Messe erscheint der Wirt des Bräuroslzelts, Peter Reichert. Ohne Begleitung, seine Familie macht Urlaub im österreichischen Altaussee, während er die Antrittstermine seiner ersten Saison als Chef eines Festzelts auf der Hauptwiesn absolviert. Heute ist die Kerzenweihe dran, eine katholische Andacht für eine friedliche und gesunde Wiesn, Tradition seit dem Oktoberfestattentat. Die anderen Wirte haben sich schon eingefunden, als Reichert in den Kirchengang tritt. Er, der Neue, entscheidet sich für die hinterste Bankreihe. Neben ihm steht der erst 26 Jahre alte Wirt des Löwenbräuzelts, Vertreter der Generation Waschbrett- statt Bierbauch. Mit sehr großem Einstecktuch im Trachtenjanker und pomadierter Haarpracht auf derselben Bank: Mathias Reinbold, Wirt des Schützenzelts. Sein Bruder war im Februar zu 72.000 Euro Strafe verurteilt worden, weil er vier Gramm Kokain gekauft hatte ("Koks-Skandal um Wiesnwirt", tz) – jetzt muss Mathias Reinbold mit seinem Vater das Zelt schmeißen. In den vorderen Reihen: die Chefin des Hofbräuzelts, als einzige Wirtin nicht in Tracht erschienen, sondern mit Jeans und strassbesetzten Sneakern, neben der Wirtin des Paulaner-Festzelts.

Reportage

DIE ZEIT

11.09.22

DISKO DEUTSCHLAND: Oktoberfest, Bräuroslzelt

Vor dem ersten Treffen mit dem Wiesnwirt Peter Reichert muss man erst mal an seiner Roboter-Kellnerin vorbei. Gleich beim Eintreten in Reicherts Wirtshaus Donisl am Münchner Marienplatz fährt ein Cyborg mit animiertem Katzengesicht auf einen zu. "Aufd Seitn!", meckert die Kreuzung aus R2-D2 und einem Tablettwagen auf Roboter-Bayrisch und schiebt sich mit zwei Weißbier auf der Ladefläche robust vorbei. Dann der erste Händedruck. Wahnsinn, hat der Mann Hände. Zehn Maß pro Hand sind ihm ohne Weiteres zuzutrauen. Auch sonst ist Reichert, 55 Jahre alt, was man in [Bayern](https://www.zeit.de/thema/bayern) einen "Brackel" nennt (hochdeutsch: robuster, großer Mann, Hüne). Vielleicht braucht man diese Physiognomie, um im Olymp der Wiesnwirte zu bestehen. Es geht um viel Geld und Einfluss. Die meisten Oktoberfestzelte werden von Dynastien bewirtschaftet und die Lizenzen an die nächste Generation weitergegeben. Reichert ist eine Ausnahme: Er hat sich als Wirt für die Bräurosl beworben, nachdem die bisherige Wirtsfamilie das Zelt wegen der Corona-Risiken aufgegeben hatte, und bekam 2020 nach hartem Ringen vom Chef der Hacker-Pschorr-Brauerei den Zuschlag.

Reportage

DIE ZEIT

10.03.22

Die nasseste Tanzfläche der Welt

Wie feiert es sich in einem Heilbad? Und wie fühlt sich eine Poolparty bei Minusgraden an? Auf der Suche nach Antworten reist der Reporter Ihres Vertrauens zur "Sparty" nach Budapest

Reportage

DIE ZEIT

07.03.22

Küken auf Eis

Es wird langsam dunkel. Da vorn sind Holzhütten. Hoffnung. Die erste Nacht soll nämlich noch in einer Hütte stattfinden. Ich frage: "Herbert, ist es das?" Herbert, unverständlich murmelnd: "Hmnhä." Ich: "Ja???" Herbert: schweigt, geht. Ich: "Nein?" Herbert: setzt einen Fuß vor den anderen. Ich, leise in mich hineinjammernd: "Wohl nicht." "Jetzt noch 200 Meter hoch und 50 Meter links", sagt Herbert, als wir die Holzhütten erreichen: "Und dann sind wir da." Das sind genau die berühmten 250 Meter, denke ich, die immer zwischen den Hütten und den Erfrorenen liegen, die im Schneesturm die Orientierung verloren haben.

Reportage

A-Z Das Deutschlandmagazin

18.11.21

Menschen allesamt

Tegernsee. Obere Hanglage, Traumblick. Es ist sechs Uhr morgens. Der Ehrenpräsident des FC Bayern München, Uli Hoeneß, ist seit drei Stunden wach. Möglichst leise, um seine Frau nicht zu wecken, geht er nach unten ins Wohnzimmer. Unter seinem Morgenmantel ist er nackt, den schweißnassen Pyjama hat er oben im Bad ausgezogen. Er fühlt sich unfassbar schlecht. Staubtrockener Mund, tonnenschwere Augenlider, sein schnell schlagendes Herz pumpt mit viel zu viel Druck das cholesterinübersättigte, dickflüssige Blut durch die engen, prallen Adern in die abgelegenen Winkel seines massiven, alten Körpers. In der Küche lässt Hoeneß sich auf einen Stuhl fallen. Die Nacht hat ihm so sehr zugesetzt, dass er es jetzt nicht mal mehr schafft, sich noch kurz ein Glas Wasser zu holen. Um drei ist er hochgeschreckt, wie so oft, er kennt das schon, plötzlich keine Luft mehr, Todesangst, unkontrolliertes Wimmern. Es ebbt immer nach ungefähr einer Minute ab, aber die Nacht ist dann gelaufen. Seine Susi will er nicht mehr aufwecken, die hat er schon so oft um den Schlaf gebracht. Ein Blick in ihr ruhiges Gesicht, und er weiß, was für ein Glück er immer schon gehabt hat. Draußen füllt der Morgennebel das Tal wie Stickstoff. Hoeneß verspürt ein ungeheures Verlangen, die Balkontür zu öffnen und barfuß rauszugehen, kurz den nassen Rasen unter den Füßen zu spüren, ein bisschen frische Luft ins Gesicht zu bekommen. Aber er kommt nicht aus seinem Stuhl hoch. Er spürt die Präsenz seines Bauchs. Manchmal steht er nackt vor dem Spiegel und packt den Bauch mit beiden Händen. In diesen Momenten hasst er sich. Andererseits: Sein Körper ist ein Gravitationsfeld der Macht, er ist das fleischige, magnetische Zentrum des größten deutschen Fußballvereins, dieser unendlich komplizierten, trotzdem perfekt laufenden, organischen Maschine FC Bayern München.

Kurzgeschichte

Die Zeit

18.11.21

In 3 Drinks durch München

Es folgt der Höhepunkt des Abends: Grundsätzlich sehnsuchtsaffiner Typ, aufgefüllt mit den Sehnsuchtsbeschleunigern Sazerac und Remedy-Rum, taucht ab in eine "Classic Dive Bar". Es ist postpandemisch voll. Ein Motorrad lehnt an der Wand, eine vierstellige Zahl BHs hängt überm Tresen, eine Diesel-Zapfsäule steht in der Ecke, hinter der Bar vier bis fünf Hardrocker, die alle als Geschwister von Lemmy Kilmister durchgingen. Schild mit Spruch an der Wand: "Achtung, Absturzgefahr". Musik von Korn und System of a Down. Hier sollte man vielleicht einfach ein Bier trinken.

Kolumne

SZ-Magazin

24.09.21

Viel mehr als vier Wände

Seit gut 80 Jahren steht der Nachname ­unseres Autors an einer Tür in München. Seit Kurzem wohnt er selbst dort. Eine Geschichte über einen Opa, der nie ­umziehen wollte, eine Oma, die keinen Pulli verloren gab – und die Wohnung, die sich an alles erinnert.

Nachruf

DIE ZEIT

11.03.21

Das ist mal ein Hausberg!

Minus vier Grad, vierzig Zentimeter Neuschnee, klarer Himmel: perfekte Bedingungen für einen Tag auf der Piste. Und es wird noch besser: Es ist nicht 6.30 Uhr, ich bin nicht im Halbschlaf mit meiner Ausrüstung zum Auto gestolpert und mühsam mit Schneeketten zur Piste gefahren; ich habe nicht in der Eile meine Handschuhe vergessen, und mein Equipment ist ausnahmsweise kein Schrott vom Flohmarkt. Es ist, im Gegenteil, 10.30 Uhr, als ich mit einem ausgewogenen Frühstück im Bauch, frisch geduscht und atmungsaktiv angezogen mein Skigebiet betrete: mein Münchner Wohnzimmer.

Reportage

DIE ZEIT

29.10.20

Ich geiler Typ!

Man stelle sich vor, was es ohne Narzissmus alles nicht gäbe: Sämtliche Pionierleistungen der Menschheit, sie wären kaum vorstellbar ohne eine gehörige Portion Selbstüberschätzung. Zum Mond fliegen und darauf herumspazieren zum Beispiel. Oder mit einem Auto darauf herumfahren, wie die Astronauten der Apollo-Mission. Wunderbar arrogant und größenwahnsinnig, oder? Es reicht nicht, zum Mond zu fliegen, man will dann da oben für die Fernsehkameras schon noch ein bisschen auf dem Quad-Bike herumdriften. Überhaupt Fliegen. Was für eine grenzenlose Anmaßung, Gefährte bauen zu wollen, die den Menschen in die Lüfte erheben. Andererseits wäre es eine ziemlich mühsame Globalisierung geworden, wenn der Traum vom Fliegen von Anfang an als der Größenwahn abgetan wurde, der er objektiv ja ist.

Essay