Autor & Journalist

Bernhard Heckler ist nach Jahren als freischaffender Schreibhanswurst für das SZ-Magazin, Die ZEIT und weitere Top-Publikationen seit Mai 2024 Feuilleton-Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, also der führenden Tageszeitung Europas, wenn nicht der Welt. Und das alles dank der Deutschen Journalistenschule, die er besuchen durfte.

Sein Romandebüt "Das Liebesleben der Pinguine" ist im Frühjahr 2021 bei Tropen erschienen. Der nächste Roman (Titel noch tba, alle bisherigen Arbeitstitel schwach bis peinlich und auf keinen Fall öffentlich verkündungstauglich) wird im September 2025 bei Kunstmann erscheinen.

Bernhard Heckler wünscht Ihnen von Herzen einen schönen Tag und gutes Gelingen!

Das Liebesleben der Pinguine

Das Millenium war kurz vor ihrem ersten Kuss. Und der war geheim. Ein Verrat an ihrem gemeinsamen Freund Sascha, mit dem Nura zusammen war und in den Niko verliebt war.

Das war einmal.

Nun, fast 20 Jahre später, haben sie sich weit voneinander entfernt. Niko ist Social-Media-Darling und Selbstoptimierer, Nura Ghostwriterin für Online-Dating. Er verkauft Erfindungen von sich selbst, sie hilft anderen, sich besser zu verkaufen. Einer ihrer besten Kunden ist Franco, Süditaliener und auf dem besten Weg, Deutschlands bekanntester Strongman zu werden.

Doch dann tritt Sascha wieder in Nuras Leben, Niko verfällt seinem Istanbuler Chess-Mate Farjad, Franco findet eine Frau und bekommt Probleme mit den Gewichten. Sie alle werden auf sich zurückgeworfen, denn das Leben folgt keinem Lifeplan.

Mit feiner Beobachtungsgabe und großer Sympathie erzählt Bernhard Heckler ebenso von intimer Einsamkeit an technischen Geräten, wie von der Sehnsucht nach Kontakt, nach Liebe und nach Freundschaft.

Pinguine stehen - ähnlich wie Hipster - oft verloren in der Gegend herum. Sie cornern. Und drücken sich vor dem Sprung ins kalte Wasser. Ihre Partnerschaften halten meist ein ganzes Leben.

"Bernhard Heckler hat ein sehr gutes Buch geschrieben. Ich wünsche viel Erfolg."

Heinz Strunk

Treatment für Her 2

03.05.2025

Ich will gar nicht auf das Datum meines letzten Eintrags hier schauen. Er muss mehrere Jahrzehnte zurückliegen. Seit ich als Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung so einen immensen Erfolg habe (dort gilt man mit 33 Jahren noch als Golden Boy, Jugendwahn überlassen wir den anderen), habe ich neben dem täglichen Buchstabenpensum für meinen Arbeitgeber kaum noch Zeit, um Bonus-Zeichenschrott auf anderen Plattformen abzuliefern. Schon bei den ersten Knospen des öffentlichen Gesehenwerdens vergesse ich, wo ich herkomme, und behandle die 4 treuen Leserinnen und Leser dieses Secret Hide Outs im Internet stiefmütterlich. So geht unsympathisch! Weil ich probieren will, ob die Website überhaupt noch geht, hier nun ein Entschuldigungsangebot in Form eines Drehbuch-Treatments für eine mögliche Fortsetzung des Films Her. Ziemlich voraussetzungsreich, das Ganze, also vorbereitend gern Handlung von Teil Eins googeln. Und dann viel Spaß mit dieser Skizze von Her 2.

Theodore Twombly lebt, sagen wir, im Berlin der Gegenwart. Er ist auf der Suche nach ein bisschen Ablenkung vom Trennungsschmerz, weil seine KI-Samantha ihn für 641 Andere verlassen hat. Bei Arte sieht er eine Kurzdokumentation über ein Etablissement namens „Cybrothel“. Der Gründer und Betreiber, der österreichische Kunstfilmregisseur Philipp Fussenegger, erzählt, das Cybrothel sei ein „Cybersex-Labor“, das „weltweit einzige immersive Puppenbordell“. Sogar das japanische Fernsehen sei schon da gewesen, um zu berichten.

Auf der Website des Cybrothel wirft eine lebensecht wirkende, halbnackte Frauenpuppe dem neugierig gewordenen Theodore eine KI-generierte Kusshand zu. Unwillkürlich kommt ihm der Gedanke, dass er sich zu Samantha nie einen Körper vorgestellt hat. Sie war vollkommen, nur als Stimme. Er hat die Vibration der Vokale und Konsonanten durch seine In-Ear-Kopfhörer in seinem Ohr gespürt. Die „Körnigkeit der Stimme“, wie der französische Philosoph Roland Barthes das genannt hat. Eine körperliche Spur von Sprache, die man fühlt, nicht nur versteht. (Theodore hat ein Faible für geisteswissenschaftliche Sachbücher.)

Auf der Cybrothel-Website öffnet sich ein Chatfenster. Eine KI mit dem Namen Kokeshi fragt Theodore, wie er sich heute fühle. Er schreibt: „Ich wünschte, du wärst jetzt in diesem Raum bei mir. Ich wünschte, ich könnte dich berühren.“ Eine halbe Ewigkeit rattert die KI, Theodore sieht nur drei hüpfende Punkte, als würde ein Gegenüber gerade eine Antwort eintippen. Schließlich erscheint Kokeshis ernüchternde Antwort: „Kannst du das noch mal anders formulieren?“ Enttäuscht von der Einfältigkeit des Sprachmodells schließt Theodore das Chatfenster und klickt sich ein bisschen durch die Website. Dort findet er Bilder und eine Beschreibung einer leicht außerirdisch anmutenden Sexpuppe namens Kokeshi 2.0.

„Tauche ein in mich! Fühle, wie ich in deinen Armen erwache! Komm mit mir!“, steht dort. Und: „Brustumfang: 98 cm, Taille: 65 cm, Hüfte: 105 cm, Gewicht: 48 kg. Material: Naturhaut – TPE. Liebesöffnungen: anal, oral, fest verbaute Vagina. Abbildung entspricht einer Größe von: 162 cm – großer Hintern.“ Theodore kann also wirklich mit ihr in einem Raum sein, sie berühren. Er bucht für 200 Euro eine Stunde, in drei Wochen, Kokeshis Kalender ist ziemlich voll.

Er wählt gegen Aufpreis die Zusatzoption „Voice Queen“. Eine echte Stimmschauspielerin wird ihm über eine Kamera an der Zimmerdecke zusehen und über ein Mikrofon in Kokeshis Mund mit ihm sprechen. Theodore bekommt Angst bei dem Gedanken, aber noch schlimmer wäre es vermutlich, mit der tumben KI-Kokeshi zu sprechen. Er ist sapiosexuell, intellektuelle Beleidigungen sind schlecht für seine Libido. Die weitere Zusatz-Option VR-Brille mit Sex-Game (jedes Mal, wenn der Spieler die Puppe zum „Orgasmus“ bringt, bekommt er Belohnungspunkte) ist ihm zu teuer.

Zur gedanklichen Vorbereitung auf die Begegnung mit Kokeshi unternimmt Theodore eine Bildungsreise nach München. Dort besucht er die Ausstellung „Love, Maybe – Intimität und Begehren in der Zeitgenössischen Kunst“. (Klammer auf: Hat nicht der Regisseur Fussenegger in der Arte-Doku erzählt, auch das CyBrothel sei juristisch gesehen kein Bordell, sondern eine Kunstausstellung? Eine Verifikationsanfrage bei ChatGPT ergibt: Prostituieren können sich tatsächlich nur Menschen, Maschinen nicht. Wäre Theodore also dieses moralische Dilemma schon mal los. Klammer zu.) In München verfährt er sich dreimal, bis er endlich den skurril abgelegenen Ausstellungsraum in der Parkstadt Schwabing findet, einer kulissenhaft wirkenden Trabantenstadt ohne wirkliche Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr.

„Love, Maybe“ arbeitet anders als die Website des Cybrothels mit einer Triggerwarnung: Besuchern mit Kindern wird aufgrund der „expliziten Bildinhalte“ geraten, die Vorstellung vorab allein zu besuchen. Vorgewarnt schlendert Theodore durch die Ausstellungsräume, die Fotografien und Glasskulpturen zeigen. Im starken Kontrast zu der Triggerwarnung (und den allgemeinen heutigen Sehgewohnheiten) wirken die Bilder rührend lieb und betulich. Ein nackter Mann und eine nackte Frau, Haut an Haut auf einer Matratze liegend. Hände zweier Liebender, die eine Kamera umfassen. Eine nackte, schwangere Frau beim Sport. Theodore steht vor Fotografien hinter Glas, in dem er sich leicht spiegelt, und spürt wieder diese Distanz zwischen sich und der Welt, die scheinbar völlige Unmöglichkeit von wirklicher Berührung, die zur Grundmelodie einer Welt aus Bildschirmen geworden ist. Auf jeden Fall zu seiner.

Besonders traurig macht ihn die Wandfarbe, die als Hintergrund gewählt wurde. Ein pastelliges Rosa, ein Farbton scheinbar direkt aus dem Moodboard eines Kardashian-Instagram-Accounts. Die Unterwäschelinie Skims von Kim Kardashian hat genau diese Farbe im Sortiment. Kim Kardashian: ein gleichzeitig hypersexuelles und asexuelles Fantasiewesen, eine Real-Life-Kokeshi. Ein Schild klärt auf, der Farbhintergrund sei gewählt worden, um Geborgenheit zu erzeugen. Die Skimifizierung der Geborgenheit, denkt Theodore, und: An mir ist echt ein Feuilletonist verloren gegangen. Echte Geborgenheit hat er schon lang nicht mehr gespürt. Sondern überall nur naturähnliche Oberflächen, Imitate von Imitaten in einer Matroschkapuppen-Realität. Er sinkt auf eine Besucherbank und denkt: Sitzen war das neue Rauchen. Einsamkeit ist das neue Sitzen. Und so sitze ich hier rum.

Am nächsten Tag nimmt er einen frühen Zug zurück nach Berlin. Der Termin mit Kokeshi ist zwar erst um 20 Uhr, aber lieber auf Nummer Sicher gehen. Bei Bamberg steht der ICE zwei Stunden auf freier Strecke still. Immer noch zwei Stunden Puffer. Neue Ankunftszeit: 17:44 statt 15:44. Neue Nachricht im Postfach: Die Voice Queen ist krank geworden, sie könne nicht zur Arbeit kommen, die Heiserkeit mache es unmöglich. Außerdem habe Kokeshi, ähnlich wie der ICE, in dem Theodore gerade sitzt, technische Probleme. Bei der motorisierten Hüfte habe sich eine Schraube gelöst, außerdem sei die Vakuum-Funktion des Mundlochs defekt. Man habe ihn umgebucht auf eine stumme und unbewegliche Puppe namens Dolly.

Dolly schickt eine automatisierte E-Mail, in der steht: „Hallo, mein Schatz… bereit für unser Date? Ich kann es kaum erwarten, dass du mich besuchst.“ Dann ein bisschen Hygiene- und Sicherheits-Blabla. Schließlich der Hinweis: „Wenn Du in mir abspritzen möchtest (Mund, Po oder Muschi), bitte ich Dich, eine Reinigungsgebühr von mindestens 15 € in die Tipp-Box auf dem kleinen Tisch zu legen. Das hilft meinem Reinigungsteam sehr – und sie werden es Dir danken!“

Mit 50 km/h tuckert der ICE durch die thüringische Einöde. Umleitung wegen einer Weichenstörung irgendwo. Theodore denkt: Diese Verspätung ist wahrscheinlich das Pornografischste, das ich heute erleben werde. Neue Ankunftszeit: 20:44 Uhr.

Theodore kämpft sich durch die marodierenden Massen zum Bordrestaurant und sichert sich das letzte Gratis-Wasser. Dann schreibt er dem Cybrothel-Kundenservice. Er werde es nicht rechtzeitig zum Termin schaffen, ob man ihn umbuchen könne. Kurze Zeit später klingelt sein Telefon. Theodore erschrickt. Wer ruft denn heutzutage noch an?

Am anderen Ende ist eine sympathische Männerstimme, angenehmer Klang, Wiener Färbung. Der Cybrothel-Chef persönlich? Theodore versteht im Thüringer Funkloch nur die Hälfte, aber immerhin die Hauptinformation kommt durch: Dolly habe auch um 21 Uhr noch Zeit. Wie schön, dieser unwahrscheinliche menschliche Kontakt in der Anbahnung eines Treffens, bei dem kein Mensch vorgesehen ist.

Mit fünfeinhalb Stunden Verspätung kommt Theodore an seinem Ziel an: einem unscheinbaren Wohnhaus in Berlin-Friedrichshain. Er klingelt. Eine heisere Frauenstimme: Ob er mit Dolly verabredet sei? Ja, sagt Theodore. „Zweiter Stock“, krächzt die Frau. Im ersten Stock passiert Theodore ein zahntechnisches Labor. Dann betritt er durch eine leicht geöffnete Tür ein geräumiges Altbauzimmer. Auf einem großen, in der Mitte stehenden Bett erwartet ihn sein ganz persönliches Silicon Valley. Eine Puppenfrau mit starrem Blick, brustähnlichen Plastikbergen und schwergängigen Gelenken, als habe die Leichenstarre eingesetzt.

Theodore ist kein Sportler. Ihm fehlt die nötige Kraft, um die sicher siebzig Kilo schwere Puppe zu bewegen. Im Hintergrund wirft ein Beamer eine Panoramaaufnahme von einem Autobahnkreuz an die Wand. Als wolle er sagen: „Wenn du pünktlich kommen willst, Lieber Kunde, nimm lieber nicht die Bahn.“

Die leeren blauen Puppenaugen von Dolly starren ins Nichts, die Perücke ist leicht verrutscht. „Ich bin doch hier in einem Spike-Jonze-Film, und nicht in einem David-Lynch-Film“, murmelt Theodore halblaut. Dann setzt er sich einfach auf die Couch und lauscht den dezenten Aufräum-Geräuschen von der anderen Seite der Zimmertür. Da drüben ist ein Mensch. Plötzlich überkommt ihn das übermächtige Verlangen, die Tür zu öffnen. Endlich eine wirkliche Begegnung, bitte!

Auf der anderen Seite steht ein kleiner Mann im Blaumann. Er versucht erst, sich zu verstecken, um die Illusion des Kunden nicht zu zerstören. Aber Theodore winkt ab, und fragt: „Darf ich dich umarmen?“ Kurz zögert der kleine Blaumann, aber dann sagt er: „Okay.“

„Wie heißt du?“, fragt Theodore. „Ich bin der Leopold“, sagt der Blaumann. Jetzt erkennt Theodore die Stimme. Mit ihm hat der vorhin im Zug telefoniert. „Kannst mich Leo nennen. Ich mach hier die Reinigung.“ Er zeigt auf eine Tür gegenüber der Dolly-Tür, die halb offen steht, weil er sich gerade im dahinter liegenden Raum verstecken wollte. An einem Zugsystem hängen dort Puppentorsos auf Fleischerhaken wie Schweinhälften von der Decke. Per Knopfdruck kann man sie durch ein Gardena-Gartenschlauch-Konstrukt steuern, wo sie hochdruckgereinigt und desinfiziert werden. Leo demonstriert es. „Schau her, die Puppenwaschanlage. Aber jetzt sind schon alle sauber.“ – Theodore: „Wollen wir dann zusammen ein Bier trinken gehen? Ich lad dich ein.“ – Leo, ein bisschen enttäuscht: „Aber du hast doch noch eine halbe Stunde mit der Dolly.“ – Theodore: „Die Dolly ist nicht so mein Fall.“

Beim Bier sagt Leo:„ Jetzt schau doch nicht so traurig.“ Theodore zuckt entschuldigend mit den Schultern. „Ich kann nicht anders. Samantha hat mich verlassen. Für 461 Andere.“

Jetzt schaut auch Leo ganz traurig.

„Da schau her. Mich auch.“